Jede Reise hat ihre Höhepunkte. Auf unserer Route von Andalusien über das Baskenland nach Frankreich hat uns das Lot Tal sehr gefallen. In der Nähe von Cahors findet sich in Vers ein schöner städtischer Campingplatz direkt am Fluss und in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Badestelle. An der Mündung eines Nebenflusses in die Lot erfrischten wir uns im grünen, eiskalten Wasser, lagen bequem auf einer Wiese und genossen das Nichts-Tun.
Eigentliches Ziel unserer Expedition war aber der kleine Ort Saint-Cirq-Lapopie.
Eines der schönsten Dörfer Frankreichs liegt auf den Klippen des linken Lot-Ufers, fast 100m über dem Fluss. Unseren Hausschuh stellten wir im Tal auf einer Wiese ab. Ein Fußweg führt den Berg hinauf in das Dorf mit seinen romantischen Gassen und den ziegelgedeckten Giebelhäusern aus dem 13. bis 16. Jahrhundert. Von der über dem Ort liegenden Burgruine sieht man am Besten auf den Fluss hinunter. Mühlen, Schleusen und ein Leinpfad erinnern an die ökonomischen Aktivitäten vergangener Tage.
Berühmt wurde das Kleinod durch einige Künstler, die sich hier ansiedelten. Ein Haus im Ort wollten wir uns genauer ansehen: der Alterssitz des französischen Schriftstellers und Begründer des Surrealismus André Breton (1896-1966). Er verbrachte die letzten 17 Sommer seines Lebens hier. In einem Reiseführer schreibt er über seine Wahl: „Ich habe aufgehört zu wünschen, ich wäre woanders.“
Als er 1951 das alte Anwesen kauft, ist er eine berühmte Persönlichkeit des Pariser Stadtlebens, wenn auch die Existentialisten Sartre und Camus ihn aus dem Mittelpunkt des öffentlichen Interesses verdrängt haben. Sein „Landhaus des Surrealismus“ ist die passende Antwort auf seine Einsamkeit in Paris und nebenbei Manifestation einer neuen Maxime: raus aus der Stadt und aufs Land.
Breton ist auf seiner lebenslangen Suche nach dem Wunderbaren, fündig geworden. Zufälle gibt es für ihn nicht, hat er doch ein ähnliches Anwesen 40 Jahre zuvor in seiner Dichtung beschrieben. Die Definition der Romantik durch Novalis – er las ihn als junger Mann, hatte den Franzosen auf seinem geistigen Weg beeinflusst: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“
Unter dem Eindruck der verheerenden Weltkriege hatte Breton eine neue Kunst und eine revolutionäre Sprache gefordert. Die Lehre Freud´s über das Unterbewusste inspirierte seine Weltsicht, ermöglichte ihm unbekannte Entdeckungen und Erfahrungen, eigentlich an jedem beliebigen Ort, jenseits der alten Denk- und Sehgewohnheiten. Die Anwendung einer surrealen Technik, das automatische Sprechen, schaffte dabei neue Ausdrucksformen, die nicht mehr allein durch die Vernunft gesteuert wurden. Breton: „Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer absoluten Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.“
Heute ist das Landhaus leer und verlassen. Wir entdeckten eine kleine Treppe, die in einen Vorhof führt, einen Steingarten. Das Sammeln von Steinen, um die „Sprache der Mineralien“ und ihre Botschaften zu verstehen, gehörte zu den bevorzugten Beschäftigungen des alten Dichters. Wir sitzen eine Stunde alleine an dem kühlen Platz, während immer mehr schwitzende Touristen sich auf der Suche nach Sehenswürdigkeiten durch den Ort quälen. Die Szene wirkt surreal. André Breton ist in Paris begraben. Auf seinem Grabstein ist folgende Inschrift zu lesen: „Ich suche das Gold der Zeit“.
Leseempfehlung:
Mark Polizzotti, Revolution des Geistes – das Leben André Bretons, Carl Hanser Verlag