Zimmerreise

Winter: Das Wohnmobil ist in der Garage, wir sind zuhause und widmen uns einer anderen Form des Unterwegsseins. In unserer gewohnten Umgebung erleben wir, wenn wir aufmerksam sind, immer neue Bedeutungszusammenhänge. Sesshaft Reisende entdecken die zweckmäßige Schönheit der Alltagsgegenstände, gewöhnliche Sachen, Bilder, Bücher und ihre Geschichten. Jedes Ding ist eine Ordnung, offenbart Welt. Das berühmte Vorbild für diese Art des Reisens ist der Franzose Xavier de Maistre. Im Jahr 1794 nutzt er einen Hausarrest für eine 42 Tage langen Ausflug durch ein Zimmer. Das Werk über dieses Abenteuer begründete den Weltruhm des Autors.

Bernd Stiegler hat ein lesenswertes Buch über die Geschichte des reisenden Stillstandes geschrieben. Die Zimmerreise definiert er als eine Art der Entfernung, die abrückt von dem Raum der Gewohnheit und diese neu erkundet und zugleich beschreibt. Die Expedition gilt nicht fremden Ländern, sondern der Fremdheit des Vertrauten. „Dabei kommt es gar nicht darauf an, daß man wirklich weit weg in unbekannte Ferne fährt. Dieser Zustand des Reisens ist ein innerer Zustand. Man verhält sich anders zur Außenwelt (…)“ ergänzt Béla Balázs die Beschreibung dieses Phänomen.

Das Paradies, stellen diese Berichte fest, lässt sich auch zuhause finden. Zur Faszination des Wohnmobils gehört, dass es beide Welten miteinander verknüpft. „Das Auto gibt uns die Ferne, der Wohnwagen das Daheim“ schrieb schon der Pionier Hans Berger über dieses Phänomen.

Eines der ersten Reisemobile war die 1926 von dem Schriftsteller Raymond Roussell in Auftrag gegebene „Villa Nomade“. Mit dem neun Meter langen Luxusgefährt bereiste der Exzentriker Europa und – kurioserweise – blieb er dabei zumeist in seinem fahrenden Haus und zog die Vorhänge zu. Er hatte keine Erwartungen, dass die Umgebung vor der Tür besonders interessant für ihn sei. André Breton schrieb über diesen Sonderling: „Dieser steinreiche Mann, der sich für seine Reisen den luxuriösen Wohnwagen der Welt hat bauen lassen, wird Zeit seines Lebens der ärgste Verächter, der größte Verneiner der wirklichen Reise bleiben.“

Die Ablehnung des Reisens als eine sinnvolle Tätigkeit findet sich bei zahlreichen Autoren. Seit einiger Zeit planen wir eine Fahrt nach Portugal und beschäftigen uns auf unseren Zimmerreisen mit den Büchern des Portugiesen Fernando Pessoa. Der Schriftsteller verlies durchaus sein Haus, um durch sein geliebtes Lissabon zu flanieren. Seine Heimatstadt verewigte er sogar in einem Reisebuch. Dieser Raum, seine unmittelbare Umgebung, genügte ihm allerdings vollkommen.

In seinem „Buch der Unruhe“ formuliert er entsprechende Skepsis über den Sinn, seine Heimat zu verlassen: „Was ist reisen, und wozu dient es? Jeder Sonnenuntergang ist ein Sonnenuntergang, um ihn zu sehen, muss ich nicht nach Konstantinopel“. Pessoa erwartete keine Befreiung von Fernreisen, denn Freiheit suchte er allein in seinem Innern. „Ginge ich auf Reisen, fände ich nur das blasse Abbild dessen, was ich schon ohne Reisen sah“.

Die Idee, dass uns eine innere Bewegung vollständig erfüllt, wird immer strittig bleiben. Der klassisch Reisende wird sein Paradies in fremden Gefilden und an anderen Orten suchen. Für uns ist das äußere Reisen eine elementare Voraussetzung jeder Verwandlung und Metamorphose. Die Zimmerreise dient aber zur geistigen Vorbereitung und Vertiefung.

Literatur:

Bernd Steiger, Reisender Stillstand, Verlag S Fischer Wissenschaft

Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe, Amman Verlag