Nach einer kleineren Odyssee mit dem Hausschuh durch die Straßen Tiranas enden wir in einem Hotelhof am Rand der Stadt. Der Bus in das Zentrum benötigt bei dichtem Verkehr beinahe eine Stunde. Dann endlich flanieren wir durch die Hauptstadt Albaniens und genießen das mediterrane Flair. Gefühlt gibt es hier die weltgrößte Dichte an Restaurants und Cafés. Autos brausen durch die Straßen und überall spüren wir das pulsierende Leben. Tirana ist nicht unbedingt eine schöne Stadt, aber dennoch ein Besuch wert, wenn man die Hintergründe Albaniens verstehen will.
Auf dem Skanderbegplatz bietet sich die bewegte Geschichte des Landes als eine Rundumschau an. An der Fassade des Nationalhistorischen Museums erzählt ein riesiges Wandmosaik von den Idealen des sozialistischen Realismus. Dargestellt werden typische Figuren – Frauen, Arbeiter und Kämpfer – die mit wehenden Fahnen den Weg in das moderne Albanien beschreiten.
Neben dem Skanderbeg-Denkmal hat sich eine kleine Moschee gehalten, erstaunlich, denkt man an die kommunistische Geschichte der Stadt. Der Sakralbau ist ein Symbol für die Wiederbelebung der religiösen Traditionen. Leben und leben lassen ist heute das Motto der Albaner, die das friedliche Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen schätzen. Während wir über den Platz laufen, probt eine Rockband für ihren Auftritt.
Wir besuchen das nahegelegene Bunker-Art-Museum. In der atombombensicheren Anlage, ein Gang verband es mit dem Innenministerium, wird die abgründige, kommunistische Geschichte der Jahre 1944-1990 aufgearbeitet. Die Stimmung in diesen Katakomben ist bedrückend. Jugoslawien, das stalinistische Russland und China hießen die Partner des Diktators Enver Hoxha, bis er schließlich das Land in die totale Isolation führte.
Polizei und Geheimdienst schufen nicht nur undurchdringliche Grenzen, sondern ebenso einen perfekten Überwachungsstaat. Die Fotokunst, deren Entstehen wir noch neulich im Murabi-Museum in Shkodra bewunderten, mutiert hier zu einer obsessiv eingesetzten Überwachungstechnik. Tausende fielen dieser Politik zum Opfer oder verbrachten Jahrzehnte in dunklen Lagern.
Hoxha, Sohn eines Religionsgelehrten, schuf 1967 den ersten atheistischen Staat auf dem Globus. Entsprechend der berühmten Aussage Dostoyewski´s, war in einer Welt ohne Gott dem Machthaber selbst alles erlaubt. Moscheen, Kirchen und Synagogen verloren ihre Bedeutung, Priester und Imame wurden verfolgt oder ermordet. 1976 hieß es im Artikel 37 der Verfassung: „Der Staat erkennt keine Religion an, unterstützt atheistische Propaganda, um eine wissenschaftliche, materialistische Weltanschauung in den Menschen zu begründen.“
Für Jahrzehnte war politischer Widerstand und jede Opposition undenkbar. Bis in das Jahr 1991 gab es in dem Land keinerlei Demonstrationen, bis schließlich eine wütende, verarmte Zivilgesellschaft das Denkmal des 1985 verstorbenen Diktators umstürzte.
Das Museum schließt in einem Raum, der sich mit erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigt, mit Manipulationen, optischen Täuschungen und vorschnellen Feind-Markierungen. Die Albaner sind sich der Schattenseiten von Ideologien und dem Wesen übergriffiger Staaten bewusst. Erfahrungen, die für ihre Zukunft in Europa wichtig sind.
Zurück auf dem großen Platz entdecken wir neben der Oper ein hübsches Café und – direkt daneben – einen internationalen Buchladen. Es gibt drei deutsche Bücher: Goethes Faust, Stefan Zweigs Schachnovelle und – wir sind begeistert – „Die Erweiterung“ von Robert Menasse. Der österreichische Schriftsteller beschäftigt sich mit seinem an der Wirklichkeit angelehnten Roman mit der Zukunft Albaniens. Er versteht nicht, dass die Aufnahme des Landes in die Europäische Union, obwohl die Albaner in großer Mehrheit bekennende Europäer sind, nur schleppend vorankommt.
Bei einem Capuccino lesen wir gespannt einige Passagen in dem Buch.
Ein Berater des albanischen Ministerpräsidenten rät zu Beginn des Buches dem Politiker zu einer Finte. Er soll alternative Optionen für das Land ins Spiel bringen, um die europäischen Regierungen zu einer schnelleren Aufnahme zu bewegen. Zur Wahl steht ein Nationalismus, der ein Großalbanien anstrebt oder eine ökonomische Anlehnung an China. Beide Ideen wären für Europa mit großen Risiken verbunden.
Menasse erwähnt – ausgesprochen durch den polnischen Ministerpräsidenten – einige der geläufigen Bedenken gegen die Aufnahme Albaniens: „Wir wollen keinen muslimischen Staat in der EU!“ „Der Markt ist zu klein!“ „Mafiöse Seilschaften wirken hinter den Kulissen!“
Das Buch ist eine ideale Einführung, um die Geschichte und die aktuelle politische Lage Albaniens einzuordnen.
Wohin steuert dieses sympathische Land und wie sichert man langfristig den bescheidenen Wohlstand, der sich nach den Jahren der Isolation entwickelt hat? Die Idee, dass Albanien eines Tages Teil eines Europas der Regionen wird, ist eine friedliche Option und hört sich für viele junge Leute hier vielversprechend an. Sicher werden die Albaner nicht für eine Wiederkehr irgendeiner Ideologie optieren.
Albanien gehört zu Europa. Für die Balkanpolitik gilt daher der alte Grundsatz: Wer zu spät kommt, bestraft das Leben.
Literatur:
Robert Menasse, Die Erweiterung, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022