Goethes italienische Reise war von einer tiefen Griechenlandsehnsucht und der Suche nach den antiken Idealen geprägt. Für ihn gehörte die Schönheit, ein Urphänomen, zur göttlichen Wahrheit. Die himmlischen und irdischen Dinge, schreibt Goethe an Jacobi, seien so ein weites Reich, dass die Organe aller Wesen sie nur zusammen erfassen. Schließlich fand er in Sizilien sein Arkadien. Griechenland dagegen betrat er nie. Goethe war klar, dass eine Rückkehr in die griechische Götterwelt unmöglich war, es blieb ihm alleine eine Aktualisierung der antiken Ideale. In seiner größten Dichtung träumt Faust nur von der Mythologie der Vergangenheit.
Bei unseren Besichtigungen in Olympia, Asini und Mykene stellen wir uns immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Wahrheit. Eine Relation, die in die Ursprünge der Philosophie führt.
Die Leser der Ilias und der Odyssee wissen, dass sich hier nichts ereignet, nichts gelingt oder misslingt, ja kein bedeutender Gedanke, kein Entschluss gefasst wird ohne göttlichen Zugriff. Unsere Vorstellung der Allgegenwart des Göttlichen in dieser Zeit ist bis heute von Homer bestimmt.
Das religiöse Verständnis der Griechen hat Widerspruch provoziert. In Olympia vermittelte zum Beispiel ein Bild des Zeus höhere Sphären. Eine Vorstellung, die den monotheistischen Glaubenslehren heute fremd ist. Goethe war diesem Phänomen der Verbildlichung gegenüber eher milde gestimmt und erkannte den eigentlichen Sinn dahinter. „Der Gott war zum Mensch geworden, um den Menschen zum Gott zu erheben“ kommentierte er. Metaphern, Narrative und Gleichnisse dienten dem Aufstieg in die Welt des Unaussprechlichen.
Bis heute lesenswert zu diesem Thema ist ein vergessenes Buch von Walter F Otto: Theophania. Er sieht kein Widerspruch in der scheinbaren Vielgötterei der Griechen zum Monotheismus der großen Religionen. Am Ende sei es ja Zeus, argumentiert er, der über alle Geschicke entscheide. Vehement verteidigt er Homer gegen den Verdacht das bunte Treiben der Götter erfunden zu haben. Für ihn liegt das Geheimnis dieser Welt in einem realen Ereignis, das dem Menschen ermöglichte, dem Göttlichen unmittelbar zu begegnen. Für Otto war diese Erfahrung nicht nur auf das Innenleben beschränkt.
Der Gelehrte ist sich bewusst, dass es keine Renaissance dieses Glaubens geben wird. Aber die Ideale der Antike entfalten für ihn durchaus denkwürdige Wirkung, zum Beispiel in moralischen Fragen: „Unsere Ethik, die alles auf den Willen und seiner vermeintlichen Freiheit zurückführt, ist der Meinung, dass der fehlerhaft Handelnde das Gute nicht sehen wolle, und sucht den Grund dafür in seiner inneren Einstellung. Den Griechen ist auch dies eine Fügung der Götter, ein Zeichen, daß sie es dem Menschen nicht gut meinen.“
Wenn griechische Helden Siege oder Niederlagen erleiden, sind es immer die Götter, die das Geschehen lenken. Die Dialektik gegen einen Feind war auf dieser Grundlage nicht entscheidend.
„Darf man behaupten, Homer sei der Dichter gewesen, der dichtende Götter in die Welt setzte?“ Peter Sloterdijk beantwortet diese Frage in seinem Beitrag zur Religionsgeschichte: „Den Himmel zum Sprechen bringen.“ Ottos Begeisterung für die religiöse Dimension des antiken Griechenlands teilt er nicht und begleitet diese Epoche mit sanfter Ironie. Der Philosoph erklärt den platonischen Einspruch, die Entkoppelung von Dichtung und Wahrheit durch diese Denkschule. Platon habe, so Sloterdijk, die denkfeindlichen Elemente der griechischen Sagen entfernt und durch die Ideenlehre – insbesondere die Lehre vom Guten – ersetzt. „Das Resultat aus Platons Intervention war die Entfremdung des Göttlichen von Mythos, Epos und Theater, und seine Neudarstellung als (…) in letzter Instanz nur kontemplativ berührbare Größe.“
In nachplatonischer Zeit sind die Dichter nicht mehr die Vermittler einer Religionslehre. Es ist die Stunde der Theologen und Philosophen. Und es entstehen ethische Fragen, die uns bis heute beschäftigen. Sloterdijk: „Die ausschließliche Zuschreibung von Gutheit zum Göttlichen sollte nach längerer Inkubationszeit fatale Folgen zeitigen: sie lud das Un-Gute, das Böse ein, in nahezu allen irdischen Dingen die Hauptrolle zu spielen, obschon es zunächst nur als eine Folge der Abwesenheit des Guten gedeutet worden war.“
In Asini – einer kleinen Halbinsel mit alten Ausgrabungen – sitzen wir auf einer Bank in der Sonne, genießen den einmaligen Ausblick auf Meer und Berge. Die erste Erwähnung dieses Ortes findet sich in den Gesängen Homers. Ihm zufolge beteiligten sich Asini und andere Städte der Region mit einer großen Anzahl von Schiffen am Trojanischen Krieg. Bei unserem Rundgang entdecken wir eine Tafel, die einem zeitgenössischen griechischen Schriftsteller gewidmet ist. Giorgos Seferis erhielt 1963 den Nobelpreis für Literatur. Wir lesen sein Gedicht: „Der König von Asini“. Der Dichter schrieb diese Zeilen in den Jahren 1938-1940, nach dem er an einer örtlichen Ausgrabung teilnahm und zufällig die Totenmaske des Königs fand.
Hier einer der Strophen: „Auf der Sonnenseite ein langer leerer Strand und das Licht, das die Diamanten auf den riesigen Wänden trifft. Kein Lebewesen, die wilden Tauben sind verschwunden und der König von Asini, den wir seit zwei Jahren zu finden versuchen, unbekannt, von allen vergessen, sogar von Homer, nur ein Wort in der Ilias und das ungewiss, hierher geworfen wie die goldene Totenmaske. Du hast sie berührt, erinnerst du dich an ihren Klang?“
Seferis Bild des alten Griechenlands ist aus der Perspektive seines orthodox-christlich geprägten Zeitraums zu verstehen. In seinen Werken klingt immer wieder die vergebliche Suche nach der verlorenen Allgegenwart des Göttlichen an. Er spricht über Einsamkeit, Leere und Sehnsucht. Seine Position zur Vergangenheit beschrieb er so: „Ich meine, Griechenland ist ein kontinuierlicher Prozess. Im Englischen beinhaltet der Ausdruck ‚antikes Griechenland‘ die Bedeutung von ‚fertig‘, während Griechenland für uns im Guten wie im Schlechten weitergeht; es lebt, ist noch nicht abgelaufen. Das ist eine Tatsache.“
Es gibt einen roten Faden, der sich auf unserer Reise von Triest bis Athen zieht. Wir sind Schriftstellern und Menschen begegnet, die aus unterschiedlichen Perspektiven heraus über ihre Religion und ihre Geschichte nachdenken. Das Spektrum der Antworten ist entsprechend weit. Auf dem ganzen Weg war die Sehnsucht nach Frieden und die Sorge vor dem Aufflammen der Konflikte der Vergangenheit spürbar. Wie immer man das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit persönlich beantwortet, sicher ist, jeder ideologisch geführte Streit um die wahre Lehre führt ins Unheil.