Es war eine Flucht. Goethe, der 1775 nach Weimar zog, hatte in dem kleinen Fürstentum eine erstaunliche Karriere gemacht. Schon nach einigen Jahren war er tief in die Regierungsgeschäfte des Landes verwickelt und zum wichtigsten politischen Berater des damaligen Fürsten Carl August aufgestiegen. Der Spagat zwischen Poesie und Politik kostete seinen Preis. Die Ämterhäufung und das Protokoll am Hof führten bei Goethe zu einem klassischen Burnout.
Der Dichter beklagte schon länger, dass seine künstlerische und literarische Produktion unter seinen politischen Verpflichtungen gelitten hatte. Zudem war die platonische Liebe zu Charlotte von Stein, einer verheirateten Frau, in eine Sackgasse geraten. Der Ausweg aus der Schaffens- und Lebenskrise verbindet sich in seinen Gedanken mit der Idee einer Italienreise.
1786 brach der Schriftsteller von Weimar mit seiner Kutsche in Richtung Italien auf. Sein Arbeitgeber, der Herzog, wusste nichts von seinen Plänen, aber zur Freude Goethes wird er später feststellen, dass sein Gönner, ohne zu murren, den fast zweijährigen Aufenthalt finanzierte.
Das populäre Reisebuch steht am Anfang der Italiensehnsucht der Deutschen. Dabei ist der Dichterfürst kein Urlauber oder einfacher Tourist, er entspricht vielmehr dem klassischen Typus des Reisenden, der unterwegs arbeitet und die Inspiration durch die Kunst sucht. Die Gelassenheit der Italiener beeindruckte ihn auf seinen Etappen in Venedig, Rom, Neapel und Palermo. Franz Kafka, begeisterter Leser der Reisebetrachtungen, gefiel der achtsame Blick aus der Postkutsche, der es dem Leser erleichtert, den langsamen Übergang der Landschaften nachzuvollziehen.
Goethe nutzte die ersten Wochen seiner Reise, um zur Ruhe zu kommen. Schon in Verona bewunderte er den Umgang der Italiener mit der Zeit: „Zwänge man dem Volke einen deutschen Zeiger auf, so würde man es verwirrt machen, denn der seinige ist innigste mit seiner Natur verwebt.“
Neben dem Phänomen der Zeit widmet sich der Dichter auf eigentümliche Art der Raumerfahrung. So faszinierte ihn in Venedig das Maß der Örtlichkeiten: „Gewöhnlich kann man die Breite der Gasse mit ausgereckten Armen entweder ganz oder beinahe messen, in den engsten stößt man schon mit den Ellbogen an, wenn man die Hände in die Seiten stemmt; es gibt wohl breitere, auch hie und da ein Plätzchen, verhältnismäßig aber kann alles enge genannt werden.“
In Venedig erblickte er zum ersten Mal das Meer und widmet sich sogleich dem Sammeln von Muscheln, der Bestimmung von Wasserpflanzen und der Untersuchung des Saftes von Tintenfischen. Die genaue Beobachtung der Natur beschäftigte ihn auf allen seinen Stationen. Im Botanischen Garten von Padua, denkt er über die Metamorphose der Pflanzen nach. Der Anblick einer Palme faszinierte ihn derart, dass er später Setzlinge der Pflanze für weitere Experimente nach Weimar exportieren lies. Im weiteren Verlauf der Reise nach Neapel und Palermo, beschäftigte ihn immer wieder die Idee der „Urpflanze“.
Goethes Rastlosigkeit endet erst bei seiner Ankunft in Rom. Dort hat er das Gefühl, wirklich angekommen zu sein. Am Ende seines Lebens wird er seinem Sekretär Eckermann ein erstaunliches Fazit über diesen Aufenthalt diktieren: „Ja, ich kann sagen, dass ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei, zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen.“
In Rom agierte der berühmte Deutsche mit falschem Namen und setzte bewusst auf Selbstverkleinerung, um den Menschen nahe zu sein. Er bewohnte ein bescheidenes Zimmer und verzichtete bewusst auf jedes Protokoll. Das Hauptanliegen seiner Reise ist es eine Metamorphose, eine Verwandlung zu erleben. „Ich werde als neuer Mensch zurückkommen“, schrieb er über seine Absichten an seine Mutter.
Die Eindrücke seiner Reiseerfahrungen verarbeitete Goethe später in seiner Faust-Dichtung. Der berühmte Pakt zwischen Faust und Mephisto hat, wie man weiß, in seinem Zentrum eine merkwürdige Wette. Nur wenn sein Gegenspieler, der über alle Möglichkeiten der Zauberei und der Magie verfügt, eine Situation schaffen würde, in der Faust „Augenblick verweile“ ruft, hätte er, Mephisto, die Wette gewonnen.
„In diesem Pakt diktiert Faust das moderne Gesetz der permanenten Revolution“, fasst Michael Jaeger die Grundidee des Paktes zusammen. Faust kommt „keinen Augenblick zur Ruhe“, wird „nie ans Ziel gelangen“ und ist immer auf der „Flucht nach vorn“. Goethe schuf mit dieser Szene die wichtigste Charakterisierung seiner Hauptfigur. Faust ist ein „Archetyp der Moderne“, schreibt Jaeger weiter, „der radikal bricht mit der kulturellen, mit der religiösen, philosophischen und politischen Tradition, um eine zweite, ganz neue Welt aufzubauen.“
Diese Neue Welt beschreibt Goethe insbesondere im zweiten Teil des Faust, in der der Wissensdrang des Faust mit der Idee der Globalisierung zusammenfällt. Die Erfindung des Papiergeldes ist, wie Goethe in dem Werk voraussieht, der Schlüssel für die ökonomische Dynamik der Moderne. Das angestrebte Wachstum ohne Ende, die Logik permanenter Machtsteigerung zwingt den Protagonisten dazu, herbe Kollateralschäden in Kauf zu nehmen.
Goethe ist in jeder Hinsicht geprägt von dem Epochenwandel seiner Zeit. 1825 beschreibt der ergraute Dichter – angesichts der neuen Techniken der Macht – beinahe melancholisch und mit erstaunlicher Aktualität, in einem Brief an Georg Nicolovius den Umbruch:
„ …so wenig nur die Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist …“
Noch heute lohnt sich die Lektüre der Italienischen Reise, und die ausführlichen Beschreibungen von Orten, der Natur und wichtigen Kunstwerken. Der Text bleibt aktuell, weil er heute den wachsenden Sehnsüchten der Reisenden nach einer ganzheitlichen Lebenserfahrung entspricht, einer Lebensform, die Arbeit, Kunst und Reisen verbindet. Die Rückkehr von intensiver Zeiterfahrung und der geschulte Blick auf das Detail am Wegesrand sind Übungen, in denen Goethe der Meister seines Faches ist, heutige Generationen von Lesern wieder nachhaltig beeindruckt.
Goethe nimmt nicht zuletzt in seinen Reflexionen die Auswüchse des Massentourismus vorweg, indem er die Gier nach Neuem und die unstillbare Lust an Veränderung als ein wesentliches Element des Faustischen bestimmt.