Der Filmemacher Werner Herzog beschäftigt sich in einem neuen Buch mit der Zukunft der Wahrheit. Zunächst fällt uns auf der ersten Seite die Widmung auf, eine persische Legende: Gott hatte einen großen Spiegel, und als er in den Spiegel sah, sah er die Wahrheit. Nachdem er den Spiegel fallen lässt, rauften sich die Menschen darum, eine der Scherben zu erhaschen. Sie blickten in ihre Scherben, sahen sich und glaubten, die Wahrheit zu erkennen.
Fake News, Künstliche Intelligenz und die sozialen Medien – diese Phänomene sind es, die der aktuellen Wahrheitssuche eine politische Dimension geben. Dabei gab es Falschmeldungen, wie das Essay anhand historischer Beispiele zeigt, schon immer. Geändert hat sich die soziale Sprengkraft, die das Verbreiten von erfundenen, konstruierten und gefälschten Meldungen mit sich bringt.
Was bleibt, ist für Herzog eine immerwährende Bemühung, sich der Wahrheit anzunähern. „Als Bewegung auf sie zu, als ungewisse Reise, als Suche voller Mühe und Vergeblichkeit.“ Das Resümee seiner Abhandlung erinnert an Nietzsche, der in einer Welt ohne Gott den Streit unterschiedlicher, subjektiver Perspektiven voraussah. „Die Wahrheit hat keine Zukunft, aber Wahrheit hat auch keine Vergangenheit“ versucht sich Herzog an einem Lehrsatz. Notwendig, ergänzt er, ist die Suche nach ihr, sei es – so seine Vorschläge – durch das Lesen von Büchern oder durch das Wandern. „Egal, ob das als pathetisch empfunden werden mag“, schreibt er, „ich habe meine elementarsten Erfahrungen mit der Wirklichkeit, mit der Welt, zu Fuß gemacht.“
In Ascona, im Tessin, denken wir beim Aufstieg auf den Monte Verità an diese Einsichten. Hier hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bunte Schar von Aussteigern, Revolutionären, Künstlern und Vegetarier zusammen gefunden. Das Ziel der Suchenden war es, in einer von Krieg und Technik beherrschten Welt, das Leben zu reformieren und wieder näher an die Natur und die Sphäre göttlicher Weisheit zu rücken. „Wahrheit und Freiheit in Denken und Handeln sollten künftig als teuerster Leitstern ihr Leben begleiten“ beginnt Ida Hofman ihren Bericht über die Gründung (1900-1905) der Kolonie.
Die Atmosphäre mit dem Blick auf den Lago Maggiore ist einmalig. Wir besichtigen staunend den Park mit den Lichthütten, die traditionelle Teestube, die Freilichtbäder und einen von den „Sonnenleuten“ angelegten Tennisplatz.
Der Versuch eine nachhaltige Gemeinschaft, auf Grundlage diverser Entwürfe, die zwischen fernöstlicher Religion, Naturliebe, Kunst und Philosophie angesiedelt sind, zu gründen scheitert. 1925 übernimmt der deutsche Bankier und Kunstsammler, Eduard von Heydt, die Anlage. Er lässt ein Kongresszentrum im Bauhaus-Stil bauen. Immer mehr Touristen kommen auf den „Berg der Wahrheit“, aber Philosophen und Künstler hinterlassen weiterhin ihre Spuren.
Ein berühmter Gast auf dem Berg ist der Schriftsteller Hermann Hesse. Eine selbst erfundene Fastenkur bekommt ihm dort nicht. Mit der Bewegung sympathisiert er, ohne aber den institutionellen Charakter der Lebensreformer je ernst zu nehmen. Später wird er im nahegelegenen Montagnola sein eigentliches Domizil und ersehntes Exil finden. Die Suche nach der Wahrheit beschäftigt ihn ein Leben lang. In seinen Briefen schreibt er: „(…) Die Aufgaben des Geistes mögen noch so vielseitig sein, aber die eine Aufgabe bleibt die wichtigste: die Sorge um die Wahrheit, die Sorgen um das Sehen und Verstehen der Wirklichkeit.“
Die Sonnen-Gemeinschaft ist längst Teil der Geschichte der Wahrheitssuche. Wir sitzen auf einer Bank, blicken auf die schneebedeckten Berge und den unter uns liegenden See.
Schon im Jahr 1948 hatte Hermann Hesse erfasst, was das Schicksal des Menschen entscheiden wird:
„Wir wollen womöglich einen Kern in uns bewahren, ein eigenes Schwergewicht, das uns daran hindert, mit in die sinnlose zentrifugale Schwingung gerissen zu werden, die immer unheimlicher wird und fern aller Politik sich in Tempo, Hetze und Unrast äußert.“
Literatur:
Werner Herzog, Die Zukunft der Wahrheit, Hanser Verlag 2024
Hermann Hesse, Briefe 1947-50, Suhrkamp Verlag, 2021
Mara Folini, Der Monte Verità von Ascona, GSK, 2013