Es sind Stimmungen, egal ob wir zu Hause sind oder reisen, die unser Sein prägen und unsere Erfahrungen beeinflussen. Franz Kafkas Einführung in die abgründigen Dimensionen der Existenz sind legendär. Den Begriff „kafkaesk“ verbinden wir mit dem Werk des Schriftstellers und wird verwendet, um eine surreale, beklemmende oder absurde Situation zu beschreiben, die durch eine unerklärliche Komplexität, eine undurchdringliche Bürokratie oder eine scheinbar sinnlose Existenz geprägt ist. Seine Werke, wie „Die Verwandlung“, „Der Prozess“ oder „Das Schloss“ gehören zur Weltliteratur und sind berühmt für die rätselhafte Darstellung von menschlichen Ausnahmesituationen. Die „makellose Prosa“, wie Rüdiger Safranski in seiner neuen Biografie schreibt, spiegelt die Abgründe des 20. Jahrhunderts und damit „die Metaphysik im Augenblick ihres Verschwindens“.
„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“. Mit diesem Satz beginnt „Der Prozess“, ein Roman, der posthum veröffentlicht wurde und zu seinen bekanntesten Werken zählt. Es handelt sich um eine komplexe Erzählung über einen Mann, der ohne ersichtlichen Grund verhaftet und vor Gericht gestellt wird. Im Verlauf der Handlung wird er mit einem undurchdringlichen System von Gerichtsverfahren und bürokratischen Maßnahmen konfrontiert. Das Verfahren bleibt unklar. Ein Beamter teilt ihm zunächst nur lapidar mit: „Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen und muss uns Wächter ausschicken.“
Das Labyrinth, in das der Protagonist eintritt, hat tatsächlich wenig mit einem Rechtsstaat zu tun. Die namenlosen Richter und Staatsanwälte verstecken sich auf Dachböden, verhandeln in Hinterzimmern und vernünftiger anwaltlicher Rat ist ebenso wenig zu bekommen. So schafft die Geschichte eine Stimmung, die zwischen Albtraum und Realsatire angesiedelt ist und existentielle Fragen rund um die Schuld, das Gesetz und die Ordnung aufwirft. Warum Franz Kafka bis heute in seinen Bann zieht, ergibt sich aus den zahlreichen Berührungspunkten mit modernen Themen: die Natur der Autorität, die Machtlosigkeit des Einzelnen, die Suche nach Sinn und Identität, sowie die Vergeblichkeit menschlicher Bemühungen, die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal zu erlangen. Zur Genialität des Autors gehört, dass er sich jeder endgültigen Deutung entzieht. Kafka ist ein Rätsel, das immer wieder neu entschlüsselt werden will.
Sah der Schriftsteller, der „Den Prozess“ zwischen 1914 und 15 geschrieben hat, die Entstehung totalitärer Staaten voraus? Diese Frage beschäftigt die Kommentatoren bis heute. Dafür spricht die unheimliche Atmosphäre des Romans, der die Rechtlosigkeit und das Ausgeliefertsein des Einzelnen gegenüber einem System beschreibt. Die Eingaben von Josef K. zu seiner Verteidigung werden vom Gericht nicht gelesen. „Man legt sie einfach zu den Akten und weise darauf hin, dass vorläufig die Einvernahme und Beobachtung des Angeklagten wichtiger sei als alles Geschriebene“. Wer denkt hier nicht an Unrechtsstaaten und an Prozesse, die heute Regimekritiker aus unterschiedlichsten Lagern betreffen?
Die unzähligen politischen Interpretationsansätze, die im Umlauf sind, treffen auch auf Kritik. Der Vorwurf liegt darin, dass sich diese Auslegungen zu weit vom Werk des Autors entfernen. Und es stimmt: Die Lage von Josef K. ergibt sich gerade nicht nur aus einem äußeren politischen Zwang oder aus der Faktizität einer Diktatur. In den folgenden Worten eines Geistlichen – an den Angeklagten gerichtet – wird dies deutlich: „Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.“ Es ist ein innerer Zustand, ein Schuldgefühl, dass den Prozess auslöst. Biografisch verarbeitet der Autor im Text unter anderem tiefe Schuldgefühle, die sich aus einer gescheiterten Beziehung mit seiner Verlobten Felice ergaben. Die Beziehung („ich kann nicht mit ihr und nicht ohne sie leben“) endet – aus Sicht des Verzweifelten – in einer Art Gerichtsverfahren mit den Angehörigen seiner Geliebten.
In seiner Dissertation „Beschreibung einer Form“ widmet sich der Schriftsteller Martin Walser einer textimmanenten Auslegung. Er erinnert daran, dass bei Kafka nicht nur der Erzähler, sondern auch ein zeitlich fixierbarer Punkt aus dem erzählt wird, fehlt. „Da der Vorgang selbst außerhalb jeder bekannten Vergangenheit spielt, gewinnen diese Romane eine Gegenwärtigkeit, die der epischen Dichtung sonst fremd ist.“ Für Walser spielt Kafkas Werk außerhalb jeder bekannten historischen Vergangenheit oder Gegenwart. In diesem Sinne handelt es sich um keinen Roman, der eine politische Entwicklung beschreibt oder voraussieht, sondern um eine Darstellung einer Totalität, die zeitlos gilt. Kafkas Figuren erfahren keinen Fortschritt ihres Charakters, sie drehen sich in ihrer Einsamkeit endlos im Kreis.
Ein wichtiger Aspekt zum Verständnis dieser Literatur ist die philosophische Unterscheidung von Furcht und Angst. Es ist keine konkrete Furcht, die die Figuren Kafkas bestimmt, eher beschreibt Kafka die Angst, die das Bewusstwerden ihres eigenen Daseins auslöst. In seinem 1927 erschienenen Werk „Sein und Zeit“ definiert Martin Heidegger diese bedrohliche Stimmung wie folgt: „Das Drohende kann sich (…) nicht aus einer bestimmten Richtung (…) nähern, es ist schon da – und doch nirgends, es ist so nah, dass es beengt und einem den Atem verschlägt – und doch nirgends.“ Der Philosoph fasst die existentielle Situation des Menschen zusammen: „Wenn sich demnach als das Wovor der Angst das Nichts, das heißt die Welt als solche herausstellt, dann besagt das: wovor die Angst sich ängstigt, ist das In-der-Welt-sein selbst.“ Das Gefühl der Unheimlichkeit, in einer modernen Welt, die versucht ohne Metaphysik und letzte Wahrheiten auszukommen, beschäftigt den Philosophen und den Schriftsteller.
Im Werk Kafkas finden sich auch lichtere Momente, die im Rahmen seiner drei Italienreisen überliefert sind und das Kafka-Bild vervollständigen. Das Licht des Südens inspirierte auch den Schriftsteller. So schreibt er im Juli 1913 – vor seiner dritten Reise – an seine Verlobte Felice Bauer: „Der beste Plan wäre doch wahrscheinlich, auf irgendeine schlaue Weise etwas Geld zusammenzubringen und mit Dir für immer nach Süden zu fahren auf eine Insel oder an einen See. Im Süden ist, glaube ich, alles möglich. Dort abgeschlossen leben und von Gras und Früchten sich nähren.“
In seinem Roman, der Prozess, erkennt man er im Dom-Kapitel Anspielungen auf den Mailänder Dom, den er 1911 besichtigte. Typisch für ihn ist, dass er die Geschichte des Türhüters, die sich an jüdische Überlieferungen anlehnt, gegenläufig in die Symbolik christlicher Architektur versetzt. Das Werk entzieht sich so wieder einmal der Eindeutigkeit. Fest steht nur, dass Kafka sich zeitlebens mit seinen jüdischen Wurzeln beschäftigte und – wenn auch eher vergeblich – mit der Möglichkeit einer religiösen Sinnstiftung. Die Suche nach einem Trost war für ihn Lebensinhalt, den er schließlich im Schreiben fand:
„Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“
Literatur:
Rüdiger Safranski, Kafka: Um sein Leben schreiben, Hanser Verlag, 2024
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Niemeyer Verlag, 2006
Franz Kafka, Der Prozess, Fischer Taschenbuch, 2023