Von Sorrent aus fahren wir mit dem Schiff auf die Insel Capri. Obwohl die Reise vor Pfingsten antreten, ist die Marina Grande überfüllt. Vor der Seilbahn, die den Hafen mit dem Hauptort verbindet, wartet eine Schlange von Touristen. Wir entscheiden uns für die harte Variante und überwinden den beachtlichen Höhenunterschied zu Fuß. Durch den Ort Capri drängen sich die Massen, es gibt elegante Hotels und teure Boutiquen, Läden die sich dem Kitsch oder Gucci verschreiben.
Wir entscheiden uns spontan für einen Spaziergang zum südöstlichen Zipfel der Insel, zu dem Aussichtspunkt „Arco Naturale“. Und wir werden belohnt. Schon wenige Meter nach dem Ort löst sich der Trubel auf, der Jasmin duftet und der ganze Zauber der Landschaft wird schnell sichtbar. Irgendwo hier hat Rainer Maria Rilke den einmaligen Blick auf die Küste von Amalfi gepriesen. Für den sensiblen Dichter waren die Eindrücke der Insel und die Atmosphäre kaum zu verarbeiten. Wir erinnern uns an eine Zeile in den Duineser Elegien: „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.“
Das Motiv von Schönheit und Schrecken passt zur Casa Malaparte, die auf unserem Rundweg liegt. Der Schriftsteller ließ die zweigeschossige Villa zwischen 1938 und 1942 auf einem vorspringenden Felsen der Punta del Massullo über dem Meer erbauen. Das moderne Gebäude mit Flachdach fällt schon aus der Ferne durch seinen roten Anstrich ins Auge.
Malaparte baute eine „casa come me“, „ein Haus wie ich“: „triste, dura, severa“ – traurig, hart und streng. Sein Leben führte ihn in die Welt der Gegensätze, nach anfänglicher Begeisterung für den Faschismus mutierte er zum Kommunisten. Seine Beziehungen zum Schwiegersohn Mussolinis bewahrte ihn vor weiterer Verfolgung. Einige Jahre war er Kriegsberichterstatter für eine italienische Zeitung. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte er Berühmtheit mit seinen Romanen „Kaputt“ (1944) und „Die Haut“ (1949), in denen er drastisch-realistisch, gleichzeitig distanziert Grausamkeit und Gewalt des Krieges beschrieb.
Zurück am Ausgangspunkt unseres Spazierganges kaufen wir in einer Buchhandlung ein Werk mit dem Titel: Capri, ein kleines Welttheater. Der Autor, Edwin Cerio, war 1902–1915 Projektingenieur für den Bau von Kriegsschiffen auf der Krupp-Werft in Kiel. Sein Lebenslauf berührt uns. Da er sechs Sprachen beherrschte, wurde er von dem Industriellen für den Verkauf der Rüstungsgüter an ausländische Staaten, vor allem in Südamerika, eingesetzt. Der Erste Weltkrieg brachte Cerio in eine Gewissenskrise, er wollte nicht mehr als „Händler von Kriegsschiffen“ an dem Hass der Völker beteiligt sein. Er fand seine tiefere Berufung: Schriftsteller.
Das Schreckliche wurde für ihn so der Beginn eines anderen Anfangs. Er zog sich nach Capri zurück, widmete sich dem Schreiben und baute Häuser. Sein Capristil war eine an die maurische Tradition anknüpfende Bauweise. Im Jahr 1920 engagiert er sich in der Kommunalpolitik und wurde sogar zum Bürgermeister gewählt. Der Naturliebhaber nutzte diese Zeit, um sich gegen die Zersiedelung der Landschaft Capris zu wehren.
Wir lesen ein Kapitel des Buches, überschrieben mit „Klein Deutschland“, in einem prachtvollen Café am Ort und vergessen schnell, nebenbei erwähnt, dass wir die teuersten Cappuccini unseres Lebens bestellt haben.
Der Autor schildert ein Jahrhundert der deutschen Poesie auf Capri und die Spuren der Präsenz von über 144 Schriftstellern auf der Insel. Nicht unerwähnt bleibt der Aufenthalt Rilkes 1906-07. Die ambivalenten Erfahrungen des sensiblen Dichters mit den Naturerscheinungen beschreibt er mit ironischer Distanz. Und es gab in dieser Zeit eine typische deutsche Unternehmung: den Capriverschönerungsverein. Ein Thema des Buches ist das Schicksal seines ehemaligen Arbeitgebers.
Inspiriert von der Lektüre laufen wir – trotz müder Beine – zum Krupp Weg, nicht weit weg von unserem Café. Der Millionär träumte vom Leben und Sterben auf Capri und schlug 1899 den Bau der Straße zum Strand Marina Piccoli vor. Er argumentierte nicht nur mit der Nützlichkeit des Vorhabens, sondern betonte – seherisch – die Bedeutung für den künftigen Tourismus. Der Weg führt uns, an einer von ihm als Treffpunkt genutzten Aussichtspunkt vorbei, steil nach unten ans Meer.
1958 ließ Pierro Bettoni, ein Freund der Familie, am Eingang der Grotte eine Gedenktafel anbringen: „Hier gab sich Federico Alfredo Krupp, einer der reichsten Kanonenmacher der Welt, im Jahr 1898 bedingungslos der göttlichen Schönheit von Capri hin, zog sich oft in diese Einsiedelei zurück und bestätigte, dass Schönheit und Poesie mehr wert sind als Macht und Geld.“