Den Hausschuh parken wir in Gjirokaster auf einem ausgewiesenen Campingplatz, der eher wie ein großer Parkplatz wirkt. Hinauf in die Altstadt fahren wir mit einem jungen, dynamischen Taxifahrer. Auf der rasanten Fahrt frage ich ihn, ob an diesem Ort mehr Muslime oder Christen leben. Der junge Mann schaut mich überrascht an: „Das weiß ich nicht genau!“ Man achte hier mehr auf das allgemeine Verhalten der Leute, welchem Glauben sie angehören sei dabei nebensächlich. Er erzählt, dass in den letzten Jahren viele junge Menschen das Land verlassen haben, dies aber für ihn nicht infrage komme. „Wir haben unseren Spaß hier, deutet er an“ und schließt seine Ausführungen mit dem Schlusssatz ab, dass, wenn die Albaner sich ähnlich anstrengen würden, wie die Deutschen oder Schweizer, das Land eine große Zukunft habe.
Wir sind am Rande des alten Basars angekommen und laufen die steilen Gassen, vorbei an kleinen Läden, hinauf zur Zitadelle. Hier bietet sich eine spektakuläre Sicht auf die „Stadt der Steine“ und das Drin-Tal. In den Bergen verbergen sich zahlreiche Klöster und Tekken. In der Abgeschiedenheit fanden Gläubige über die Jahrhunderte spirituelle Erfüllung oder – je nach Lage – auch Sicherheit. Bei unserem Rundgang in der Herbstsonne fallen uns dunkle Keller auf. Über viele Jahrzehnte gab es auf der Burg Gefängnisse, die, zwischen 1932 -1971, von Italienern, Griechen, Deutschen und Kommunisten betrieben worden sind.
Am Rand der Altstadt besuchen wir das Geburtshaus des bekanntesten albanischen Schriftstellers: Ismail Kadare. Das Museum ist seinem literarischen Denkmal von Gjirokaster, Chronik in Stein, gewidmet. Er schreibt: „Es war dies wirklich eine sehr seltsame Stadt. Man konnte auf einer Straße gehen und, wenn man wollte, den Arm ein wenig ausstrecken, um seine Mütze über die Spitze eines Minaretts zu stülpen. Vieles war schwer zu glauben, und vieles war wie ein Traum.“
Kadare wurde mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen. Seine Rolle in der kommunistischen Zeit des Landes war schwierig. Die Machtverhältnisse erlaubten nur indirekte Kritik an der totalitären Herrschaft. 1981 veröffentlichte er unter anderen den Roman „Der Palast der Träume“, eine Parabel über einen diktatorischen Staat, der die Träume seiner Untertanen überwacht und interpretiert, um so potenzielle Verschwörungen gegen sich aufzudecken. Er wurde nach Erscheinen verboten. Das internationale Renommee schützte den Autor immer wieder vor Verfolgung.
Kadare lebte nach dem Fall des Kommunismus einige Zeit in Frankreich. 2006 veröffentlichte er einen Text, in dem der Schriftsteller versucht, die albanische Mentalität mit dem Christentum zu verknüpfen. Aus dieser Stellungnahme entwickelte sich eine Debatte um die kulturelle Identität der Albaner und die Frage, an welchem Anknüpfungspunkt der Geschichte die eigentlichen Wurzeln des Landes liegen. Jenseits dieser akademischen Frage, hofft die Mehrheit aller Menschen auf eine Zukunft in der Europäische Union. Dass es verschiedene Konfessionen im Land gibt, die respektvoll miteinander umgehen, ist dabei unstrittig.
Auf dem Rückweg in die Innenstadt besuchen wir eines der großen Bürgerhäuser, das um 1700 erbaute Skenduli Haus. Die feine osmanische Architektur, die Konzeption der Wohnräume und Bäder, schaffen eine einmalige Atmosphäre. Und: Im Hausgang staunen wir bei unserer Besichtigung über ein Bild der Rügenfelsen, eine Kopie von Caspar David Friedrich. Der Hauseigentümer wurde 1981 von einem anderen Sohn der Stadt enteignet: Enver Hoxha. Entsprechend seiner anti-religiösen Kulturrevolution wurden viele religiöse Gebäude der Stadt vernichtet. Der osmanische Charakter der Stadt blieb dennoch bestehen und ist bis heute offensichtlich Teil des Erbes dieses Landes.
Wir genießen zum Abschluss unseres Rundgangs die Atmosphäre in einem Café, das die Sonne in ein eigentümliches Licht taucht. Die moderate Preisgestaltung in dem Lokal unterstützt die soziale Funktion dieses Treffpunktes. Es herrscht ein buntes Treiben. Hier sitzen alte, gut gekleidete Männer unter den Bäumen und unterhalten sich. Ihre Gesichter sind ähnlich zerfurcht, wie die Felsen der Umgebung, sie spiegeln die Chronik der Zeit.