Das reale Italien

Am späten Nachmittag: Wir sitzen in Orvieto auf einer Steinbank vor dem Dom, einem Meisterwerk der gotischen Architektur. Die Sonne scheint mit ihrer ganzen Kraft auf die Hauptfassade. Wie auf einer Folie werden die Strahlen vom Marmor zurückgespiegelt, im Zusammenspiel mit dem blauen Himmel versinkt das Ensemble in ein unwirkliches Licht. Die gesamte Altstadt ist auf einem Felsplateau aus Tuffstein errichtet. Wir schlendern durch alte Gassen, staunen vor den prachtvollen Palästen und begegnen immer wieder Menschen aus aller Welt.

An einem der Aussichtspunkte sehen wir auf die moderne Unterstadt hinunter und entdecken in der Ferne unser Wohnmobil. Der Parkplatz liegt nicht gerade idyllisch zwischen einer Eisenbahnstrecke und einer separaten Schnellzugverbindung. Hin und wieder sausen rote Waggons entweder Richtung Florenz oder Rom. Im Café unterhalten wir uns über die Sehenswürdigkeiten der Stadt, die nicht, trotz des allgegenwärtigen Tourismus, wie ein Museum wirkt. Uns amüsiert der Gedanke später die Unterstadt zu erforschen, mit der Idee, dort so etwas wie das reale, echte Italien zu entdecken.

Gegen Abend nutzen wir die Seilbahn für den Heimweg nach unten. Neben dem Parkplatz liegt eine kleine Wiese, wo wir unsere Stühle aufstellen. Es gibt hier Toiletten und Duschen und die vorbeirasenden Züge stören uns nicht. Wir beschließen, hier eine Nacht zu verbringen. So denken wir zumindest, denn ein Blick auf den Hinterreifen unseres Gefährtes zeigt, dass dieser Aufenthalt nicht freiwillig sein wird. Der Reifen ist platt.

Aus Chronistenpflicht lesen wir in der Betriebsanleitung des Fahrzeuges das Kapitel über den Reifenwechsel. Von der Tatsache abgesehen, dass wir kein Ersatzrad mitführen, handelt es sich um ein Meisterwerk der Aufklärung. Jetzt wissen wir zum Beispiel, dass ein Wagenheber im Auto fehlt, es dafür aber ein Hilfsgerät zur Behelfsreparatur des Reifens gibt. Das ist eine feine Sache, zumindest wenn man vor der Abfahrt eine entsprechende Kartusche gekauft hätte. Es ist ein Schlamassel, vor allem für Leute, die von Technik keine Ahnung haben, denen Vorsorge fremd ist, weil das geliebte Auto eben fährt.

Vor dem Schlafengehen sorgen wir uns, wie man – in einer fremden Sprache – einen Abschleppwagen organisiert. Irgendwie wird das, beruhigen wir uns. Und – nicht dass es keine positiven Nachrichten gäbe, auf Google Maps findet sich in drei Kilometer Entfernung ein Reifenhändler. Neben dem Gebäude ist ein großer Haufen Altreifen zu sehen – daraus schließen wir, dass hier Probleme gelöst werden.

Am frühen Morgen scheint wieder die Sonne. Wir studieren erst einmal mit einem Kaffee in der Hand den Reifen. Er ist platt. Wir haben nicht geträumt. Ein älterer Herr, mit einem gelangweilten Hunde an der Leine, mustert uns. Wir ergreifen die Gelegenheit und sprechen ihn an. Er spricht nur Italienisch, knurrt etwas vor sich hin, wir deuten auf den Reifen. „Ah“ ist seine kurze Antwort. Er schlurft zu seinem Wohnmobil und kehrt mit einem Behelfsgerät, mit einer entsprechenden Kartusche ausgestattet, zurück. Der Mann ist kein Idiot.

Kurze Zeit später strahlt der Reifen wieder Zuversicht aus. Wir bedanken uns, streicheln den regungslosen Hund und bieten eine Summe für das benutzte Wundermittel an. Es ist der Moment, wo der stoische Mann lächelt. Geld? Ohne Worte macht er klar, dass dies ein Angebot ist, dass ihn nichts angeht. Uns erspart er mit seiner Hilfsbereitschaft eine aufwendige Aktion mit einem Abschleppwagen.

Die Werkstatt ist schnell erreicht. Die Bilder aus dem Netz haben nicht getrogen. Hier herrscht nur dem ersten Eindruck nach Chaos, in Wirklichkeit ist es eine geschäftige Atmosphäre. Besonders gefällt uns ein Banner mit der Abbildung des historischen Orvieto, das niemand zur Kenntnis nimmt, aber auf ganzer Breite die Halle verschönert. Der Chef, eine vitale Erscheinung, hat jetzt kurz Zeit für uns. Sein Angebot verstehen wir mithilfe des Google-Übersetzers: Er kann entweder sofort einen alten Ersatzreifen zur Verfügung stellen oder bis abends einen neuen Reifen besorgen.

Im Grunde wäre jetzt, nachdem wir uns für die zweite Option entschieden haben, alles geklärt. Denken wir, bevor ein neues Wort aus der Welt der Technik auftaucht. „Wo ist der Felgenschlüssel?“ Diesen Satz lesen wir im Übersetzungsprogramm, von einem der Mechaniker eingesprochen. Wir lächeln wissend, ohne die geringste Ahnung, wo ein Werkzeug mit diesem Namen zu finden ist. Rauchend beobachtet der junge Mann, wie wir die Garage auf den Kopf stellen. Es ist zum Verzweifeln, aber es besteht Grund zur Annahme, dass der Verkäufer unseres Wohnmobils ein ordentlicher Camper war. Und endlich entdecken wir das merkwürdige Teil in der Tasche mit der Betriebsanleitung im Führerhaus.

Eine Autopanne – zumindest wenn sie in einer der schönsten Orte Italiens stattfindet – hat ihre angenehmen Seiten. Wir nehmen uns, nachdem sich die vermeintliche Katastrophe langsam in Luft auflöst, nochmals Zeit die Umgebung zu erkunden. Wir sitzen zunächst für zwei Stunden in einem schmuddeligen Bahnhofscafé in der Sonne und stellen fest, dass es hier den besten Cappuccino der Stadt gibt. Es findet sich ein Park mit einer Bank. Wir lesen ein Buch. Es ist keine Wartezeit – nein, das ist eben in Italien sein.

Am Abend, kurz vor 18 Uhr, finden wir unser Wohnmobil leicht auf der Seite geneigt vor. Ein Schwebezustand: Der alte Reifen ist weg, der neue noch nicht da. Bevor dunkle Wolken am Horizont erscheinen, wirft uns der Chef einen Blick zu. Es gibt Grund für Optimismus. Das ersehnte Stück kommt wenig später angerollt. Es ist ein Kind der Globalisierung, ein chinesisches Modell, zuverlässig und billig, wird uns mit entwaffnendem Charme versichert. Wer zweifelt an einem solchen Tag? Pünktlich um 18 Uhr rollen wir wieder Richtung Süden.

Aus der Lektüre fällt uns ein Zitat von Hartmut Rosa ein: „Wir sehen jetzt, wie sehr wir das Irritierende, das Überraschende, die erfreuliche oder unerfreuliche soziale Interaktion brauchen, um aus unseren Routinen, auch den gedanklichen, herauskommen zu können.“

Italien – im Gegenlicht

Das Land wo die Zitronen blühen – Reisen nach Italien sind seit zweihundertfünfzig Jahren der Selbsterfahrungstrip der Deutschen. Nicht wenige folgen in ihrer Reiseplanung bis heute dem Vorbild der italienischen Reise von Johann Wolfgang von Goethe.

Wir lesen, in der kalten Jahreszeit, ein dieser Kulturgeschichte gewidmetes Buch von Golo Maurer: „Heimreise – die Suche der Deutschen nach sich selbst.“ Im Verlauf des 19. Jahrhunderts bildet sich heraus, „was man als dreifache Wurzel einer spezifisch deutschen Identität als kulturelle – und zunehmend auch politische – Nation bezeichnen könnte: Man liebte Italien, identifizierte sich mit Goethe und fühlte sich deutsch.“

Goethes Flucht aus Weimar war die Antwort auf seinen Burnout, den der Politiker angesichts seines zeitraubenden, öffentlichen Engagements erlitt. Im Süden reiste er unter falschen Namen, arbeitete jeden Tag an seinen künstlerischen Talenten. In Rom suchte er die Antike, in Palermo die Urpflanze. Nach der Rückkehr in den Norden beklagte der Reisende die „mangelnde Teilnahme“ seiner Landsleute an seinen Erfahrungen. Goethe, ein unverstandenes, einsames Genie. Am Lebensende diktierte er Eckermann: „Ja, ich kann sagen, dass ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei.“

Die Erfahrungen des Dichters in seinem Land der Träume provozierten immer wieder Kritik. „Alle Dinge auf seiner Reise“ schrieb der Literaturhistoriker Adolf Stahr, „sind nur zur Förderung seiner schönen, persönlichen Zwecke da.“ Zu wenig, so liest man an verschiedenen Stellen, sei der Dichter an den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Lage der Bevölkerung interessiert gewesen.

Maurer beschreibt viele Deutsche, die über die Jahrhunderte aus dem Land erzählten. Die wiederkehrenden Fragen dabei sind: Was ist aus dem Sehnsuchtsort geworden? Bilden wir uns Italien nur ein?

Eine Antwort präsentiert Joachim Fest, der das Land in den 1970er und 1980er Jahren bereiste. Der Historiker, der sich Jahrzehnte mit den Abgründen der deutschen Geschichte beschäftigte, zog es immer wieder weg von den „Fatigues du Nord.“

Zufällig finden wir die Beschreibung seiner italienischen Reise – „im Gegenlicht“ – in einem antiquarischen Buchladen. Und wir sind beim Lesen begeistert.

Sein Reisebuch ist in vielerlei Hinsicht ein Gegenentwurf zur Reise Goethes. Seine Tour führt ihn zunächst nach Sizilien, dann reist er in die Hauptstadt: Rom. Und: Auf dem Weg trifft er Passanten, Künstler, und Wissenschaftler, mit denen er gemeinsam herauszufinden versucht, was die Sizilianer und Italiener ausmacht. Dabei inspiriert ihn weder das „Italienbild aus der Oper“ noch tote Steine am Wegesrand. Fest zitiert nicht zufällig einen seiner Gesprächspartner, der beklagt, dass ihn die „ewige Rührung vor der Geschichte“, die viele Touristen treibt, nervt.

Die italienische Reise ist eine Suche nach der verlorenen Zeit, beschäftigt sich mit den Fragen der Erkenntnis und damit, welche Phänomene wir heute bezeugen. Auf Sizilien beobachtet Fest zwei Bauern auf ihren Eseln und schreibt: „Diese Bilder, dreitausend Jahre alt, ziehen sich jetzt aus der Welt zurück. Gedanke, zu den Letzten zu zählen, die sie sehen“.

Im Gegenlicht werden die Zerstörungen der Moderne deutlich. Der Autor wandert durch Betonburgen, besucht einst heilige Orte, die Industrieanlagen verdrängt haben. „Der Wirklichkeit entkommt keiner mehr“ notiert er dabei lakonisch.

Das Bonmot von Robert Louis Stevenson „Sightseeing is the art of disappointment“ versteht Fest nur allzu gut. Dennoch, immer wieder blitzt das Vergangene in der Gegenwart auf, zeigt sich der Zauber der Landschaft. Mithilfe der meisterhaften Sprache und der herausragenden Bildung, die den Autor in den auszeichnen, gelingt ihm ein Meisterwerk. Eine Einsicht nach der Lektüre: Über die Verluste in der Welt trösten Begegnungen hinweg. Hinter den Rollen den wirklichen Menschen zu entdecken und den Schein von der Realität zu trennen, liegt hier ein Sinn des Reisens?

Traum, Wirklichkeit und Illusion – das Italienbuch von Joachim Fest ist für uns eine Entdeckung.

Literatur:

Golo Maurer, Heimreise, Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst, Rowohlt Hamburg, 2021

Joachim Fest, eine italienische Reise, im Gegenlicht, Siedler Berlin, 1988