Keine Stadt bewegt sich so sehr zwischen Traum und Wirklichkeit wie Venedig. Wir haben Erinnerungen, die bis in die Kindheit zurückreichen. Zur Vorbereitung lesen wir ein wenig Reiseliteratur, um unseren Wortschatz entsprechend anzureichern. Der holländische Schriftsteller Louis Couperus beschrieb das Wesen Venedigs im 19. Jahrhundert wie folgt: „Denn diese Stadt ist ein Traum und eine Fabel; sie ist nicht wirklich, sie existiert nicht … wir bilden sie uns ein. Sie ist eine Fata Morgana, sie wird geboren in perlmutternen Glanz, sie erstrahlt in goldenem Glanze, sie verschwimmt in violettem Nachtschatten.“ Mit einfacheren Worten ausgedrückt: Wir erleben unser eigenes Venedig. Die „Biberrepublik“ (Goethe) ist so reich an Kunstwerken, Geschichten und Erzählungen, dass jeder Aufenthalt nur einen Einblick gewährt und eine Momentaufnahme bleibt.
Mit dem Schiff lässt sich Venedig gut von Punta Sabbioni erreichen. Kurze Zeit später, nach etwa zwanzig Minuten, taucht die Kulisse des Markusplatzes und des 97 Meter hohen Kampanile auf. Millionen Touristen treffen hier jedes Jahr ein und – eine Täuschung ist ausgeschlossen – alle sind sich einig: Das städtebauliche Ensemble und der Ausblick auf den Canal Grande, mit seinen Palästen, Museen und Kirchen, ist einmalig.
Pünktlich um 9 Uhr ist – ein kleines Wunder – keine Schlange an den Kassen des Dogenpalastes. Wir besuchen die Ausstellung über den berühmten Sohn der Stadt: Marco Polo. Hier sehen wir faszinierenden Karten, studieren die Netzwerke der Reisenden und einige Kunstwerke aus den Regionen, bis hin nach China, die der Weltenbummler besuchte. Aber, die Darstellung des Lebens des Abenteurers bleibt oberflächlich, was an der profanen Tatsache liegt, dass man über ihn nur wenig sicher weiß. Legenden und Mythen vermischen sich mit historisch belegten Fakten. Inzwischen ist sich die Fachliteratur einig, dass Marco Polo wirklich China besuchte.
Wir verlassen etwas enttäuscht die Ausstellung und nehmen den Weg durch die Gassen Richtung Rialto. An einer kleinen Brücke gibt es ein Café mit einem preiswerten Cappuccino und nebenbei die Gelegenheit, die Gondoliere zu beobachten. Sie sind nicht nur geschickt im Umgang mit der Kundschaft, die für den Traum einer Bootsfahrt einiges bezahlt, sondern sie manövrieren ihre Gondeln mit bewundernswertem Geschick durch den engen Kanal.
Man ist hier nicht allein. Anfang September sind die Gassen nicht unangenehm voll. „Venezianer sind Städter mit Wellengang, Wassermenschen, Bewohner einer fluiden, amphibischen Stadt“ schreibt Cees Nooteboom in seinem Venedigbuch. Es gibt fünfzigtausend solcher echten Einwohner, die der erheblich größeren Zahl der Bilderjäger aus aller Welt gegenüberstehen. Der Schriftsteller mit leichter Ironie: „Immer wird sich zwischen ihrem Blick und der Stadt ein Telefon oder ein anderes Gerät befinden, das ihr eigenes Gesicht zeigt und dahinter die Stadt, die sie so gern hatten sehen wollen.“
„Die Einsamkeit, nach der ich so oft sehnsuchtsvoll geseufzt, kann ich nun recht genießen, denn nirgends fühlt man sich einsamer als im Gewimmel, wo man sich allen ganz unbekannt durchdrängt“ schreibt Goethe am 28. September 1786 in sein Tagebuch. Wie die Generationen der Besucher nach ihm bewundert er diesen Ort. Und er fährt mit einer Gondel spazieren. „Alles, was mich umgibt, ist würdig, ein großes, respektables Werk versammelter Menschenkraft, ein herrliches Moment, nicht eines Gebieters, sondern eines Volkes.“
In seinen venezianischen Epigrammen, die er nach seinem 2. Aufenthalt in der Stadt 1790 verfasst, schafft er ein zeitloses Bild:
Diese Gondel vergleich´ ich der Wiege, sie schaukelt gefällig,
Und das Kästchen darauf scheint ein geräumiger Sarg.
Recht so!
Zwischen Sarg und Wiege wir schwanken und schweben,
Auf dem großen Kanal, sorglos durchs Leben dahin.
Der Dichter verbringt seine Tage mit dem Besuch von Museen, dem Studium von Bauwerken und Kunstwerken. Nur ausnahmsweise klingt bei dem großen Kunstkenner seiner Zeit der Pessimismus an: „Die Kunst, welche dem Alten seinen Fußboden bereitete, dem Christen seine Kirchenhimmel wölbte, hat sich jetzt auf Dosen und Armbänder verkrümelt. Diese Zeiten sind schlechter, als man denkt“.
Wir lassen uns treiben, steigen über die Rialtobrücke, betrachten die Gegenstände der Souvenirhändler, die Massen von Plastikgondeln und Postkarten anbieten. Verlaufen uns. Wie alle ortsunkundigen Stadtbummler verlieren wir die Orientierung, enden in einer der Sackgassen. Oder wir sitzen an einem Kanal und schauen dem Treiben auf dem Wasser zu. So vergeht die Zeit. Nein, diese Stadt enttäuscht nicht.
Als die Füße müde werden, laufen wir zurück zur Landungsbrücke und besteigen das Boot, das nur am Lido einen kurzen Aufenthalt macht. In unmittelbarer Nähe sah Goethe zum ersten Mal das Meer. Der Dichter war für große und kleine Dinge stets ansprechbar und begeisterungsfähig. Am Strand untersucht er Seeschnecken, Patellen und Taschenkrebse, um schließlich auszurufen: „Was ist doch ein Lebendiges für ein köstliches, herrliches Ding!“
Über die prekäre Lage der Stadt sorgte sich Goethe nicht: „Die Langsamkeit, mit der das Meer abnimmt, gibt ihr Jahrtausende Zeit, und sie werden schon, den Kanälen klug nachhelfend, sich im Besitz zu erhalten suchen“. Unser Schiff fährt langsam seinem Zielhafen zu. Rechts von uns tauchen große Anlagen auf, die die Lagune absperren und Venedig in Zeiten der Klimaerwärmung vor dem Hochwasser und dem steigenden Meeresspiegel schützt. Ein technisches Meisterwerk unserer Epoche. Der italienische Staat hat für diesen Rettungsversuch im Angesicht der Naturgewalten Milliarden ausgegeben. Ob das Vorhaben gelingt, steht in den Sternen. Venedig bleibt zunächst ein Traum, den man wirklich besuchen kann.
Literatur:
Goethe, Italienische Reise, CH Beck Verlag, München 2017
Cees Nooteboom, Venedig – Der Löwe, die Stadt und das Meer, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022