Ich habe eine große Wahrheit entdeckt: Diese: daß die Menschen ein Heim haben, und daß sich der Sinn der Dinge für sie wandelt je nach dem Sinn ihres Hauses (…)
Antoine de Saint Exupéry, Die Stadt in der Wüste
Die in den 70er Jahren erbaute Gropiusstadt wurde durch ein Buch (1978) berühmt: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Mit drastischen Worten beschreibt Christiane F darin ihre damalige Drogenkarriere und die Sozialisierung in dem Neubauviertel: „Von weitem sah alles neu und sehr gepflegt aus. Doch wenn man zwischen den Hochhäusern war, stank es überall nach Pisse und Kacke. Das kam von den vielen Hunden und den vielen Kindern. Am meisten stank es im Treppenhaus.“
An einem schönen Herbsttag spazieren wir um das Gropiushaus und denken über die Visionen des Architekten Walter Gropius nach, seine Idee von Häuserfabriken, Wohnungen, die am Fließband erstehen. Der Bruch mit den alten Traditionen des Bauens begründete er mit der Notwendigkeit einer neuen Wohnform für den „einheitlichen Erdenbürger“. Seine Grundüberzeugung: Er war überzeugt „daß der Mensch, beste Belüftungs- und Besonnungsmöglichkeiten vorausgesetzt, vom biologischen Standpunkt aus nur eine geringe Menge an Wohnraum benötigt, zumal wenn diese betriebstechnisch richtig organisiert wird.“ In Deutschland finden sich Spuren dieses Rationalismus, den Bau der Gropiusstadt hat der 1969 verstorbene Architekt allerdings nicht mehr selbst erlebt.
Die neuen Bautechniken wurden im Nachkriegsdeutschland kontrovers diskutiert. Ein Kollege des Baumeisters, Adolf Behne, fasste die Kritik zusammen: „Der Mensch wird zur berechneten Figur, seine Bedürfnisse werden auf das Funktionieren reduziert und zum Wohnen erhält er einen Reisekoffer, aus dem jegliche Form von Individualität und Gefühlsleben ausgesperrt ist.“
Im Jahre 1951 hielt der Martin Heidegger einen Vortrag mit dem Titel „Bauen, Wohnen, Denken“. Für den Philosophen ist das Bauen keine Frage der Technik. Das Wohnen ist für ihn das Symbol, wie die Sterblichen auf der Erde sind. „Wir wohnen nicht, weil wir gebaut haben, sondern wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, das heißt als Wohnende sind.“ Heideggers provokante These lautet somit: „Die eigentliche Not des Wohnens zeigt sich nicht erst im Fehlen von Wohnungen.“ Das Dasein ist Teil einer Einheit, die der Philosoph das „Geviert“ nennt, eine Verknüpfung von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen. „Die Sterblichen sind im Geviert, indem sie wohnen“ trägt er vor. Echte Bauwerke fügen den Menschen in einen erweiterten Kontext ein.
Die Zukunft des Wohnens wird heute, in Zeiten des Wohnungsmangels und der hohen Mietpreise, wieder heftig diskutiert. Viele unserer Bekannten in Berlin beklagen steigende Nebenkosten und berichten über ihre vergeblichen Versuche, eine alternative Wohnung zu finden. Der Bau eines eigenen Hauses ist für die meisten Menschen unbezahlbar. Sogar die Umsetzung einer alten Bauhaus-Idee, kleine bezahlbare Wohnflächen mit Gemeinschaftseinrichtungen zu ergänzen, wird diskutiert. Nicht zuletzt erklärt sich der Trend zum digitalen Nomadentum, das Leben in der fahrenden 1-Zimmerwohnung, im Wohnmobil, aus dem Frust, nicht nur für die Bezahlung der steigenden Mieten zu existieren. Die Möglichkeit, arbeiten und reisen zu verknüpfen, alleine oder mit Anderen, nach Sinn und Erfahrungen zu suchen, sind der Kern dieser Lebensphilosophie.
Literatur:
Winfried Nerdinger, Walter Gropius – Architekt der Moderne, CH Beck Verlag, 2019
Bauen Wohnen Denken – Martin Heidegger inspiriert Künstler, Coppenrath Verlag, 1994