Während draußen ein Orkan tobt, lesen wir eine der schönsten Bücher der Reiseliteratur. Über Felder und Strände ist ein Meisterwerk der Schriftsteller Gustave Flaubert und Maxime du Camp. Im Sommer 1847 unternehmen die beiden Freunde eine ausgedehnte Reise in die Bretagne und erschaffen ein einmaliges Mosaik ihrer Eindrücke, Erinnerungen und Beobachtungen.
Ihre Reiselust ist mit der Überzeugung verknüpft, dass in „bestimmten Orten, bestimmten Dingen eine gewisse Idee zu ihnen gehört und untrennbar mit ihnen verbunden sind.“ Mit dieser Einstellung besuchen sie alte Ruinen, Schlösser und Friedhöfe, erinnern sich an geliebte Dichter, historische Figuren und sagenhafte Gestalten.
Der Leser wird an die Küsten der Bretagne mitgenommen und erlebt dort mit, welche Phänomene die innere Freiheit der Beobachter prägen: „Eine Schwalbe zog vorüber, wir sahen ihren Flug; sie kam vom Meer, langsam stieg sie höher, mit ihren scharf umrissenen Federn durch die dünne, leuchtende Luft schneidend, in der ihre Flügel ruderten und es zu genießen schienen, sich frei entfalten zu können.“ Es folgt einige Seiten später eine wunderbare Beschreibung eines Postboten, der mit seinem Pferd am Stand entlang reitet und für die beiden Reisenden den Reiz der Landschaft vollendet. Spätestens jetzt, nach diesen Schilderungen von Land und Meer, ist man versucht, seine Koffer zu packen und sich auf den Weg machen.
Das Buch stimmt den Reisenden darauf ein, dass in jedem Ort, an allen Stellen und in den sozialen Begegnungen etwas Verborgenes liegt. Die Aufmerksamkeit der Schriftsteller erregen sakrale Orte, aber ebenso ein Zirkus, ein Schlachthof oder ein Gasthaus. Jede Szene wird dabei mit der gleichen Intensität beschrieben. Überhaupt sind Kultur, Menschen, Religion und die Natur miteinander verwoben und nur in ihrem Gesamtzusammenhang verständlich.
Man wundert sich nicht, dass Flaubert und du Camp am Ende ihrer Reise melancholisch werden: „Bald sollte dieses phantastisches Nomadenleben, dass wir seit drei Monaten in solcher Seelenruhe führten zu Ende gehen. Die Rückkehr hat, wie die Abreise, ihre im voraus gefühlten Traurigkeiten, die einem den faden Dunst des Alltagslebens schon vorausschicken.“
Wir dagegen träumen davon bald abzureisen. Natürlich in die Bretagne! Wir werden diese Reise zwar anders erleben, aber wenigstens versuchen das Staunen der Dichter nachzuempfinden und der Frage nachgehen, die sich die beiden Franzosen in ihrem Werk gestellt haben: „Mit dem Einfluß der Orte auf die Bücher verhält es sich wie mit dem Rätsel von Henne und Ei: Hat die Henne das Ei gelegt oder das Ei die Henne geschaffen?“
In diesen Tagen ergreift uns das Flaubert-Fieber. Wir lesen einen Klassiker des Meisters: Madame Bovary. Das Buch handelt über das Leben in den Dörfern der französischen Provinz. Im Mittelpunkt des Romans steht das tragische Schicksal einer Frau, die, enttäuscht von einer unglücklichen Ehe, sich in die Welt der Illusionen flüchtet.
Flaubert schildert die komplexe Seelenlandschaft der beiden Eheleute Emma und Charles. Aus einfachen Verhältnissen stammend und den Konventionen der französischen Provinz folgend, heiratet der verwitwete Doktor die geheimnisvolle Tochter eines Bauern. Es ist eine Vernunftehe. Emma hätte gerne „um Mitternacht geheiratet, im Fackelschein“, aber die Zeremonie folgt den üblichen Riten.
Emmas Glaube an die Liebe wird durch den Alltag der Beziehung desillusioniert. Die Tragödie entfaltet sich auf der Grundlage einer Nicht-Begegnung. „Doch während im gemeinsamen Leben die Vertrautheit enger wurde, kam es zu einer inneren Loslösung, die sie von ihm trennte “ erklärt Flaubert die Lage der Ehefrau. Die Erfahrung der Leere, die Langeweile, wird Emma durch das Begehren nach „Seligkeit, Leidenschaft und Rausch“ verdrängen.
Flaubert entfaltet meisterhaft den psychologischen Hintergrund der Protagonisten: Er schildert eindrücklich ihre Herkunft, den Einfluss der Eltern in ihrer jeweiligen Persönlichkeitsbildung und beschreibt die Prägung der Eheleute durch ihren Bildungsweg. Charles durchläuft ohne große Begeisterung eine wissenschaftliche Ausbildung zum Mediziner, die junge Emma wird durch einen Aufenthalt in einem Kloster geprägt. Ihre Sehnsucht nach Gott, ihr Drang zu großen Erfahrungen, ihre emotionalen Bedürfnisse und ihr Freiheitswille werden durch den strengen Ritus langsam erstickt.
In der Ehe entwickelt sich ein Drama. Zunächst versucht Emma, ihren Widerwillen gegen die eintönige Präsenz ihres Mannes zu bekämpfen. „Bei Mondschein rezitierte sie im Garten alles, was sie an leidenschaftlichen Reimen auswendig konnte (…)“ – nur, die Liebe stellt sich nicht ein. Charles bewundert seine Frau äußerlich und ist dennoch nicht fähig, die verborgenen Wünsche seiner Partnerin zu registrieren. „Seine Gefühle regten sich nun pünktlich; er umarmte sie zu festen Zeiten“ heißt es lapidar über die eingespielte Beziehung. Nach einigen Monaten bricht es aus Emma heraus: „Mein Gott! Warum habe ich geheiratet?“
Zwischen dem Paar herrscht die Sprachlosigkeit. Bevor das Drama seinen Lauf nimmt, beklagt Emma ihre Einsamkeit. Ihre Nöte sind im provinziellen Milieu der Eheleute ein Tabu. Sie fragt sich: „Doch auf welche Weise ein nicht fassbares Unbehagen ausdrücken, das sich verändert wie die Wolken, wirbelt wie der Wind?“. Der Erzähler fügt hinzu: „Es fehlen ihr also die Worte, eine Gelegenheit, Mut“.
Ihre unerfüllte Liebe verdrängt Emma mit Fantasien und Illusionen. Ihre Verwandlung wird so beschrieben: „Je näher die Dinge ihr standen, desto entschiedener wandte ihr Denken sich von ihnen ab“. Die Folgen sind dramatisch: Madame Bovary träumt von einem idealen Ehemann, begehrt ein prunkvolles Leben und sehnt sich nach Abwechslung. Die Verzweifelte verfällt nebenbei in einen Konsumrausch und verschuldet sich. Der Ehebruch wird unter diesen Umständen – Flaubert ist hier ein Provokateur – eine logische Konsequenz.
Der Schriftsteller spielt in der Charakterisierung Emmas immer wieder mit dem Phänomen des imaginären Reisens: „Es dünkte sie, gewisse Orte auf der Erde müssten Glück hervorbringen wie eine für den Boden typische Pflanze, die überall sonst schlecht gedeiht.“ Ihre Sehnsucht, aus dem Stillstand des Landlebens auszubrechen, lässt sie einen Plan von Paris kaufen und „mit dem Finger auf der Karte wandert sie durch die Metropole.“
Der weitere Verlauf des Romans wird zeigen, dass, trotz aller verzweifelten Versuche, ihr eine echte Erfüllung stets versagt bleibt. Ihr Leben endet in einer großen Enttäuschung. Ihr Selbstmord ist das Finale einer tragischen Existenz.
Flaubert lässt den Leser mit einer fundamentalen Frage zurück: Hätte das Drama verhindert werden können? Der französische Schriftsteller schafft mit seiner Figur den Typus einer Persönlichkeit, im Kontext des modernen Strebens nach Einheit und Wahrheit, die bis heute fasziniert.
Der Roman inspiriert uns – ebenso wie das Reisetagebuch – in diese Welt einzutauchen. Dabei haben wir keine Ahnung, ob der Marktflecken Yonville-l´Abbaye, an dem das Drama verortet ist, existiert oder nur der Fantasie Flauberts entstammt. Wir werden uns dennoch auf die Suche begeben: irgendwo in der Provinz zwischen der Normandie und der Bretagne.
Die Expedition wird uns auf jeden Fall nach Rouen führen, der Heimat des Schriftstellers und ein Sehnsuchtsort der Madame Bovary. Mit der Schilderung der Metropole aus der Sicht Emmas hat Flaubert der Stadt ein Denkmal gesetzt:
„Amphitheatralisch abfallend und in Nebel gehüllt, wucherte sie jenseits der Brücken weiter, im Verschwommenen.“
Literatur:
Gustave Flaubert, Madame Bovary, Carl Hanser Verlag, 2020
Gustave Flaubert, Über Felder und Strände, Fischer Klassik
Michel Winock, Flaubert, Biografie Hanser, 2021