„Wer vernünftig handeln will, sei es nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten, muss zunächst die Wahrheit erblicken.“
Platon
Der Ausdruck Vita activa („tätiges Leben“) bezeichnet in der griechischen Philosophie eine Lebensform, bei der praktische Arbeit und soziale Betätigung im Vordergrund stehen. Den Gegensatz dazu bildet die Vita contemplativa („betrachtendes Leben“), die der Erkenntnis gewidmet ist. Das Verhältnis der beiden Seinsweisen ist aus der Balance geraten: Viele Reisende sind heute unterwegs, um sich – zumindest zeitweise – von der Hektik des Alltags und von den Herausforderungen des Berufslebens zu erholen.
In der Faustdichtung hat Johann Wolfgang von Goethe einen Prototyp der Moderne geschaffen, dessen Leben im direkten Gegensatz zu der eigentlichen Ruhe erfordernden Kontemplation steht.
Faust ist ein Charakter, der erkennen will, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und rastlos nach Wissen, Macht und Expansion strebt. Die Kernszene der großen Erzählung, die Goethe kurz vor seinem Tod vollendete, ist der Pakt zwischen Faust und Mephistopheles. Die Anordnung ist kompliziert: Der Teufel gewinnt die Wette, wenn er, durch seine magischen Kräfte begünstigt, den Tatmenschen aus seinen Aktivitäten und Absichten heraus in einem Moment der kontemplativen Erfüllung führt und erlöst.
FAUST:
„Werd ich zum Augenblick sagen:
Verweile doch! Du bist so schön!
Dann magst Du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gerne zugrunde gehen!
Michael Jaeger („Global Player Faust“) sieht in diesem Pakt das moderne Gesetz der permanenten Revolution. Der Mensch kommt nicht zur Ruhe, gelangt nie ans Ziel und ist immer auf der „Flucht nach vorn“. Die Utopie, die aus dem Pakt hervorgeht, ist heute Realität: keine Bewusstseinsregion, keine noch so abgelegene Weltgegend, die nicht erfasst würde von der modernen Negation des Verweilens, da die ganze Welt in die immer schnelleren, rasenden Bild-, Daten-, Finanz-, Konsum und Verkehrsbewegungen gerät.
In diesem Kontext lesen wir das neue Buch des Philosophen Byung-Chul Han: Vita contemplativa oder von der Untätigkeit.
Der aus Korea stammende Denker – in Asien ein Fabrikarbeiter, später promovierte er in Deutschland über Heidegger – versucht sich angesichts des Zustandes der Stressgemeinschaft an einer therapeutischen Maßnahme. Der Philosoph plädiert für eine Renaissance des Kontemplativen, für eine Harmonisierung des westlichen Tatendrangs mit fernöstlich inspirierter Weisheit:
„Wir haben vergessen, dass gerade die Untätigkeit, die nichts produziert, eine Intensiv- und Glanzform des Lebens darstellt. Dem Zwang zur Arbeit und Leistung wird eine Politik der Untätigkeit entgegenzusetzen sein, die eine wirkliche freie Zeit hervorzubringen vermag.“
Han fordert nichts Anderes als den Übergang vom Handeln zum Sein, vom Wahn, dass alles machbar ist, hin zur Ermöglichung von wahren Veränderungen. Diese Ereignisse werden, aus seiner Sicht, nicht durch Aktionen, sondern in der existentiellen Erfahrung einer umfassenden Leere, vorbereitet. Er führt das Paradox aus:
„Die Langeweile ist die Schwelle zu großen Taten. Die Langeweile bildet das unbewusste Geschehen. Ohne sie ereignet sich nichts.“
Das Nichtstun versteht der Philosoph hier nicht Sinne eines sinnlosen Zeittotschlagens, sondern vielmehr in der Erfahrung einer langen Weile, einer intensiven Zeiterfahrung, einer Stimmung, die sich der Leere der Welt bewusst wird.
Byung-Chul Han führt, unter dem Eindruck des Zeitalters der Informationsgesellschaft, einen weiteren Begriff ein:
„Die Masse verliert heute an Bedeutung. Nicht zufällig ist von der Gesellschaft der Singularitäten die Rede. Beschworen werden Kreativität und Authentizität. Jeder hält sich für einzigartig. Jeder hat seine eigene Geschichte zu erzählen. Jeder performt sich. Die Vita activa äußert sich nun als Vita performativa.“
Das Performen zeigt sich im Arbeitscharakter, den viele Freizeitaktivitäten heute in sich bergen oder in unserer permanenten Selbstdarstellung in den sozialen Medien. Han ringt um eine neue Balance:
„Das menschliche Dasein verwirklicht sich allein in der Vita composita, nämlich im Zusammenwirken von Vita activa und Vita contemplativa“.
Literatur:
Byung-Chul Han, Vita Contemplativa , Ullstein Verlag, Berlin 2022
Michale Jaeger, Global Player Faust, wjs-Verlag, Berlin 2010