Mythos, Ideenwerkstatt, Inspirationsquelle oder doch nur ein großes Museum? Wie man genau die Rolle der Kleinstadt an der Ilm heute einschätzt, bleibt den BesucherInnen aus aller Welt überlassen. Goethe- und Schillerhaus, zuletzt das neu eröffnete Bauhausmuseum, entfalten ihre Magnetwirkung. Für uns ist die Stadt immer wieder ein Besuch wert, und wir verlassen sie nie, ohne etwas Neues für uns entdeckt zu haben. Das Wohnmobil haben wir auf unserer Herbsttour am Schwimmbad abgestellt.
Am Nationaltheater erinnert das berühmte Denkmal, worum sich hier alles dreht: Goethe und Schiller. Die Freunde wurden dort Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Sockel gestellt und zu Nationaldichter erkoren. Eine Bestimmung, der sich der Weltbürger Goethe entzieht. Nationalismus war nie seine Sache, sein Ideal von anderer Natur:
„Überhaupt ist es mit dem Nationalhaß ein eigenes Ding.- Auf den untersten Stufen der Kultur werden sie ihn am stärksten und heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet , und wo man gewissermaßen über den Nationen steht, und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß, und ich hatte mich darin längst befestigt, ehe ich mein sechzigstes Jahr erreicht hatte“
Der Freundschaftsbund Goethe / Schiller (1789-1805) ist das Symbol der Weimarer Klassik und stellt den Versuch dar, „gegen die formauflösenden Tendenzen der Revolutionsperiode eine an der Antike und der Tradition der humanistischen Poetik orientierte Kunstform zu begründen..“ (Borchmeyer).
Um das komplexe Lebenswerk und den Lebensstil Goethes besser zu verstehen, ist zunächst ein Besuch des Goethehauses zu empfehlen. Überall stößt man dort auf Hinweise einer ganzheitlichen Weltanschauung, von der griechischen Kunst, über die Naturwissenschaften bis hin zu den Themen seiner Dichtung. Man ahnt, dass eine konkrete Beschäftigung mit dem Werk, etwa 30.000 Seiten, davon 15000 Seiten Briefe, eine Lebensaufgabe ist. Die beste Goethe-Biographie („Kunstwerk des Lebens“) von Rüdiger Safranski – er hat an der genialen Einführung sechs Jahre geschrieben – kann man im örtlichen Buchhandel erwerben.
Die Stiftung Weimarer Klassik bietet fortlaufend Ausstellungen an, die der Aktualität der Denker immer wieder neu Ausdruck verleihen. Im Jahr 2020 zeigte sie unter dem Titel „Abenteuer der Vernunft“ eindrucksvoll auf, dass Goethe ein begeisterter Naturwissenschaftler war. Die berühmte Farbenlehre, nach den Worten des Dichters sein bedeutendstes Werk, aus dem Jahr 1810, gilt noch immer als ein wichtiges Fachbuch. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Verfahren ist für ihn elementar:
„Das Betrachten und Nachdenken über das Betrachtete galt Goethe als eine Einheit. Technische Instrumente zum Zwecke experimenteller Erkenntnis, die sich zwischen das Betrachten und Nachdenken schieben müsste, lehnte er dabei, wie bekannt, ab. Die im Wesentlichen einzigen Instrumente, die er zuließ, waren die Sinnesorgane. Der Sinn der Natur, davon blieb Goethe überzeugt, könne sich nur auf sinnliche Weise erfassen lassen.“ (Rüdiger Görner, Goethes geistige Morphologie)
Die Metamorphose von Mensch und Natur, die Beobachtung der Gesetze permanenter Veränderung, beschäftigen den Meister zeitlebens. Nach dem Selbstverständnis des Dichters ist er dabei im Feld der Kunst ein Polytheist, in seinem Naturverständnis Pantheist und im sittlichen Umgang Monotheist. Goethes Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft, sein Tätigsein in Politik und Gesellschaft und seine ehrfürchtige Haltung gegenüber der Natur ergeben so seine einmalige Gestalt.
Goethe kommt im Alter von 26 Jahren in die damals 6000 Einwohner zählende Stadt. Wenige Zeit später ist er eine der mächtigsten Männer Weimars. Seine Freundschaft zu dem Regenten Carl August, der ihm wichtige Regierungsämter anvertraut, macht es möglich. Das Kunstwerk des Lebens hat einen Bezug zur Politik. Das Goethehaus ist ein willkommenes Geschenk des Fürsten. Vorwürfe, er sei ein „Füstendichter“ ärgern Goethe bis ins hohe Alter:
„Nun heißt es wieder, ich sei ein Fürstendiener, ich sei ein Fürstenknecht. Als ob damit etwas gesagt wäre! Diene ich etwa einem Tyrannen? Einem Despoten? (….) Ich bin dem Großherzog seit einem halben Jahrhundert auf das innigste verbunden und habe ein halbes Jahrhundert mit ihm gestrebt und gearbeitet; aber lügen müsste ich, wenn ich sagen wollte, ich wüsste einen einzigen Tag, wo der Großherzog nicht daran gedacht hätte, etwas zu tun und auszuführen, dass dem Lande zum Wohle gereichte, und das geeignet wäre, den Zustand des Einzelnen zu verbessern. (Gespräch mit Eckermann, 27. April 1825)
Seine Italienische Reise (1786 – 1788) ist ein Wendepunkt im Leben des Dichters in Weimar. Die politischen Verpflichtungen am Hof haben zu einem „Burnout“ und einer Schreibblockade geführt. Er flüchtet an seinen Sehnsuchtsort um zu malen und inkognito zu reisen. Später wird er als alter Mann seinem Vertrauten Eckermann berichten, dass er dort am glücklichsten gewesen sei. Nach der Rückkehr aus Italien widmet sich Goethe wieder verstärkt dem Schreiben und der Vollendung wichtiger Werke: Wahlverwandtschaften 1809; Ost-Westlicher Divan 1819; Wilhelm Meister Lehr und Wanderjahre (1821) und Faust 1831.
1825 beschreibt der Dichter – angesichts neuer Techniken der Macht, melancholisch und mit erstaunlicher Aktualität, in einem Brief an Georg Nicolovius, den Zeitenwandel, in dem er sich findet:
„…so wenig nur die Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist…“
Wer den Klassiker, als ein Phänomen der Vergangenheit einordnet, mag sich wundern, wie aktuell die Faust-Dichtung heute erscheinen kann. Das Verhältnis zwischen Mephisto und Faust ist nach wie vor ein Symbol der Moderne und verweist auf zentrale Probleme bis in das 21. Jahrhundert. „In diesem Pakt diktiert Faust das moderne Gesetz der permanenten Revolution, die desgleichen keinen Augenblick zur Ruhe, nie ans Ziel gelangen darf, die immer auf der Flucht nach vorn ist.“ (Michael Jaeger, Global Player Faust).
Globalisierung, Umweltprobleme, virtuelle Welten und Menschenexperimente sind zentrale Themen in dem Werk. Im zweiten Teil des Faust wird die Erfindung des Papiergeldes, die Schaffung des Geldes aus dem Nichts, beschrieben. Goethe sieht in der neuen Geldpolitik den Kern politischer Probleme und den Hintergrund der Wachstumsideologie: „Hinter Mephistos Angebot einer gleichsam magischen Geldvermehrung ist das revolutionäre Projekt der modernen Finanzökonomie schlechthin zu erkennen: die Papiergeldschöpfung“ (Binswanger)
Wer sich für das „Drama der Moderne“ interessiert, sollte Jaegers neue Faust-Einführung (2021) lesen. Hier wird das Unbehagen Goethes über den technisch-industriellen Umbau von Natur und Gesellschaft und den Bruch mit der philosophischen und religiösen Überlieferung Europas beschrieben. Das Schicksal des Faust nach seinem Tod, bis hin zur Frage nach dem Jenseitigen, lässt großen Interpretationsspielraum zu. In Glaubensfragen war der Schriftsteller kein engstirniger Dogmatiker.
„Religiös in einem ganz allgemeinen Sinne war Goethe sehr wohl, nämlich im ursprünglichen, wörtlichen Verständnis der religio als spiritueller Ehrfurcht vor jenem dem menschlichen Willen – zur Macht – Unzugänglichen und Unverfügbaren, dem Goethe den dezidiert unorthodoxen Namen des Ewig-Weiblichen geben konnte… (Michael Jaeger, Global Player Faust).
Das Ende des Werkes bleibt offen und lädt zu neuen Interpretationen ein.
Weimar ist also keine Museumsstadt, sondern noch immer eine Inspirationsquelle. Das ist zumindest unser wiederkehrendes Fazit. Wem die Klassik dabei zu viel wird, schlendert einfach nur durch die Stadt, um so den Gang der Zeitgeschichte zu reflektieren oder den Ilmpark entdecken. Auf diesem Spaziergang wird man das Werk der Jahreszeiten bewundern, die Metamorphose der Natur erleben, sich für das Spiel der Zeit öffnen und auf diese Weise sich den Grundeinsichten Goethes annähern.