Palermo, die Hauptstadt Siziliens, ist ein faszinierender Schmelztiegel aus Geschichte, Kultur und kulinarischem Erbe. Geprägt von jahrtausendelanger Herrschaft durch Phönizier, Römer, Araber, Normannen und Spanier, spiegelt sich in der Stadt ein Mix aus europäischer und orientalischer Architektur wider. Kuppeln, Kirchen und Paläste erzählen von einer bewegten Vergangenheit. Die Altstadt von Palermo begeistert mit verwinkelten Gassen, lebendigen Märkten wie Ballarò und Vucciria sowie einer Fülle an historischen Bauwerken. Darunter beeindrucken die prachtvolle Kathedrale, der normannische Königspalast mit der goldglänzenden Cappella Palatina und das Teatro Massimo, eines der größten Opernhäuser Europas. Die Stadt ist absolut sehenswert. Viele Touristen arbeiten eine Liste von Sehenswürdigkeiten ab oder man lässt sich – wie wir es bevorzugen – treiben.
Moderne Reiseführer erwähnen meist nur kurz den Einfluss der arabischen Baumeister auf die normannischen Herrscher. In Goethes italienische Reise findet sich ebenso wenig zu dieser Epoche, den der Dichter richtete seinen Fokus in erster Linie auf die Antike. In den Wanderjahren, einer anderen berühmten Reisebeschreibung über Italien von Friedrich Gregovorius (1821-1891), erwähnt der Historiker aus Chronistenpflicht, dass die Kathedrale vormals eine Moschee war. Und er berichtet: „Nur auf einer einzigen Säule des südlichen Portikus sieht man noch eine arabische Inschrift, den 55. Vers der 7. Sura, welcher lautet: Euer Gott hat den Tag geschaffen, dem die Nacht folgt, und der Mond und die Sterne sind beigefügt zum Werke nach einem Befehl. Ist nicht sein eigen die Kreatur und nicht sein die Herrschaft? Gelobt sei der Herr der Jahrhunderte!“
In einer Gasse, im ehemals arabischen Viertel, bleiben wir eher zufällig vor einem verfallenen Haus stehen, das nur mühsam durch eine Holzkonstruktion zusammengehalten wird. Wir sehen auf der Wand Spuren verschiedener architektonischen Zeugnisse und eine verblasste Inschrift, die wir zu entziffern versuchen. Palermo ist voller Rätsel der Vergangenheit, die zu entschlüsseln sind.
Wir setzen frohgemut die Suche nach der verlorenen Zeit fort. Ein Juwel ist – aus unserer Sicht – San Giovanni degli Eremiti (Kirche der Eremiten) mit ihren charakteristischen roten Kuppeln und dem bezaubernden, stillen Garten – ein Ort der Ruhe mitten in der Stadt. Wir sitzen eine ganze Weile unter eine Palme und staunen über den Innenhof, der von einem Kreuzgang mit Säulen und Bögen umfasst wird. Hier ist die Zeit stehen geblieben.
Wir kehren am späten Nachmittag zurück zu unserem Stellplatz, der von Hochhäusern umgeben ist. Die Wohnmobile stehen dicht gedrängt nebeneinander. Uns gefällt es hier. Nachts ist es erstaunlich ruhig und man läuft gemütlich in wenigen Minuten in das Zentrum.
Am nächsten Tag besuchen wir am Stadtrand den Zisa-Palast – ein arabisch-normannisches Meisterwerk aus dem 12. Jahrhundert, das ursprünglich als Sommerresidenz der Könige diente. Die Architektur erinnert an maurische Bauten und zeugt von der Verbindung Palermos zur islamischen Welt. Der „Brunnensaal“, durch den zur Kühlung eine offene Wasserleitung führt, ist ein Beispiel dieser Baukunst. Aus dessen Rückwand ergoss sich das Wasser in zwei Becken und floss dann in einen Teich, ein typisches Motiv der arabischen Palastarchitektur. Im Museum gefällt uns eine ausgestellte Grabtafel einer verstorbenen Frau aus dem Mittelalter, die mit Texten in vier unterschiedlichen Sprachen versehen ist. Hebräisch, Lateinisch, Arabisch und Griechisch, diese Vielfalt deutet auf ein Leben in einer Hochzivilisation.
Im Museumsshop erstehen wir ein Buch, das es nur in der italienischen Ausgabe gibt: „Palermo araba. Una sintesi dell’evoluzione urbanistica (831–1072)“. Das Werk von Ferdinando Maurici bietet eine Analyse der Stadtentwicklung Palermos unter arabischer Herrschaft und beleuchtet die architektonischen Veränderungen dieser Zeit. Er gewährt einen Überblick über die Ankunft der Muslime in Sizilien im Jahr 831 und die darauffolgende Entwicklung. Die Stadt erlebte damals einen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung, der sich in ihrer urbanistischen Struktur widerspiegelte. Durch Ausgrabungen und Studien erkennt er den Verlauf der Stadtmauern, die Anordnung der Stadtviertel und die Lage öffentlicher Plätze. Seine Aufmerksamkeit gilt den Überresten von Moscheen, Bädern und Märkten, die soziale Leben der Zeit widerspiegeln. Maurici beschreibt die Vielfalt der Bevölkerung, bestehend aus Arabern, Berbern, Christen und Juden, und erzählt, wie diese Gruppen in den urbanen Raum integriert waren. Kulturelle Dienstleistungen wie Bibliotheken, Schulen und Moscheen spielten eine zentrale Rolle im täglichen Leben und förderten den Austausch von Wissen und Ideen. Die Philosophie des Leben und Lebenlassen beeindruckt bis heute.
Eine der historischen Quellen, die Maurici benutzt, ist der Geograf Ibn Hawqal, der im 10. Jahrhundert die Märkte in Palermo beschrieb. Diese Plätze waren bekannt für ihre Vielfalt an Waren, darunter Gewürze, Textilien und Lebensmittel, die aus der islamischen Welt importiert wurden. Sein Werk „Ṣūrat al-’Arḍ“ enthält ausführliche geografisch-ethnografische Beschreibungen verschiedener Regionen, auch wenn es sich dabei nicht um klassische „Reisebeschreibungen“ im literarischen Sinne handelt, wie etwa bei Ibn Battuta. In seinem Werk schildert er Palermo (al-Madinah) als bevölkerungsreiche und multikulturelle Stadt mit einer muslimischen, christlichen und jüdischen Bevölkerung. Er hebt hervor, dass es dort 300 Moscheen gegeben habe. Geschichtliche Erzählungen sind oft umkämpft. Wir lesen an anderer Stelle, dass moderne Historiker die Zahl für übertrieben halten.
Zurück in der Stadt setzen wir uns an der prächtigen Meerpromenade in ein Café. Von hier aus hat Goethe den Monte Pelligrino beschrieben, ein Vorgebirge, das die Bucht einrahmt, und der Dichter für einen der schönsten Berge der Welt hielt. „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem“ schrieb er in sein Tagebuch. Wer würde hier widersprechen? Der gut gelaunte Kellner serviert zwei Cappuccini. An der Straße beobachten wir indessen eine Alltagsszene. Ein Obdachloser, der am Randstreifen in einer Art Zelt wohnt, mit einem Einkaufswagen davor, spricht ein paar junge Frauen an. Er verlangt nach einem Obolus. Unser Keller schreitet ein und begleitet die Passanten, die sich belästigt fühlen in sein Café. Dann kehrt er zurück und überreicht dem Mann eine Pizza und eine Flasche Wasser. Der Empfänger nickt stumm. Armut, und der Umgang mit ihr, ist ein uraltes Thema in Sizilien. Wir erinnern uns an die tausende Flüchtlinge, die jedes Jahr an den Küsten Süditaliens stranden. Was wird die Geschichte von ihrem Schicksal erzählen?
Nicht weit von hier besuchen wir den Park Guilia, den Goethe in seinen Aufzeichnungen verewigt hat. „Es ist der wunderbarste Ort der Welt“ schrieb er unter dem Eindruck der duftenden Pflanzenwelt und sieht sich ins Altertum versetzt. Nach den Stationen Rom, Neapel und Palermo schließt sich der Kreis. Der Besuch des „Wundergartens“ regt ihn zur Lektüre von Homers Odyssee an.
Heute wirkt die Anlage etwas ungepflegt und heruntergekommen. In unmittelbarer Nachbarschaft wurde kurz nach Goethes Besuch der botanische Garten eröffnet. Hier empfindet man die Begeisterung des Dichters über Flora und Fauna der Insel. Es gibt alleine achtzig verschiedene Palmensorten zu bestaunen. Sizilien wurde nicht nur durch unterschiedlichste Menschen geprägt. „Einwanderer“ der Pflanzenwelt bereichern heute ebenso die Landschaft. Die Zitronen, die den Mythos des Landes ausmachen und unserer Italiensehnsucht symbolisiert, brachten die Araber mit.