Die Welt ist ein Spiegel

Die Insel Rügen ist wie keine andere Landschaft mit dem Maler des Nordens verbunden: Caspar David Friedrich. Wir lesen die Spurensuche von Herrmann Zschoche, der über die Exkursionen des Künstlers berichtet, die ihn zu unzähligen Werken inspirierten. Die Nähe zu seiner Kunst erfährt man auf einer Wanderung an den Kreidefelsen entlang von Sassnitz zum Victoriafelsen, stets die unendliche Ostsee im Blick.

Zschoche berichtet aus dem Jahr 1815: „An diesem Tag, dem 11. August, zeichnet Friedrich den Blick in die Tiefe einer Schlucht, mit dem Blick aufs Meer und eine bizarre Felsnadel, aus denen er später eines seiner berühmtesten Bilder entwickelt“. Der Künstler ist fasziniert von den Kreidepfeilern am Weg, die die dunkle Ostsee einrahmen und einmalige Perspektiven ermöglichen.

Das Werk des Malers folgt dem Prinzip der Metamorphose. Viele Motive entwickeln sich aus zahlreichen Zeichnungen, die der Wanderer immer wieder anfertigt. Alles ist in Bewegung, Realität vermischt sich mit Fiktion. Es handelt sich bei den gewählten Motiven seiner Gemälde nie um einen konkreten Ort. Das berühmte Bild „Kreidefelsen auf Rügen“ (1818) ist dennoch von der Inselgeschichte nicht wegzudenken. Die – so schreibt Biograf von Brauchitsch – „dramatische Verdichtung ist zum Inbegriff der Rügener Küste geworden und hat maßgeblich zur Steigerung des Tourismus auf der Insel beigetragen.“

Das Bild hat den für Friedrich typischen Rätselcharakter. Generationen von Kunstfreunden fragen sich, um wen es sich bei den drei dargestellten Personen handelt. Eine Frau zeigt in den Abgrund, ein Mann untersucht Grashalme und der andere Herr blickt auf das Meer hinaus. Vermutlich verewigte der Maler seine Hochzeitsreise 1818 mit seiner Frau Caroline, dem Bruder Christian und der Schwägerin Elisabeth. Die Szene lässt viele Interpretationen zu. Vom Beschauer erwartete Friedrich nur seine eigenen Gedanken schweifen zu lassen, über die Natur, die Metaphysik und die Existenz nachzudenken. Die Welt ist ein Spiegel.

Von Brauchitsch interpretiert das Gemälde wie folgt:

„Es ist nicht auszuschließen, dass sich die drei Charaktere des Bildes auf so unterschiedliche Weise – interessiert, ängstlich, stoisch – auch mit dem Abgrund in uns selbst befassen, denn über diesen Abgrund beugten sich die Romantiker, lauschten hinunter, förderten Schätze aus ihm zutage, erkannten in ihm den Urquell des Lebens und der Kunst.“

Literatur:
Herrman Zschoche, Caspar David Friedrichs Rügen, Verlag der Kunst, Husum 2021
Boris von Brauchitsch, Caspar David Friedrich, Insel Verlag, Berlin 2023