Metamorphosen

Es gibt viele gute Gründe für eine Reise. Wir erholen uns als Urlauber am Strand von harter Arbeit, wir besichtigen als Touristen Sehenswürdigkeiten und Landschaften, oder wir streben als Reisende an unseren Bildungs- und Erlebnishorizont zu erweitern. Oft genug verbinden wir alle Elemente.

Ein besonderes Ereignis ist es, wenn unsere Wege in eine Verwandlung führen. Die Metamorphose ist eine Gestalt, die die Reisenden seit jeher beschäftigt. Goethes italienische Reise hat ihn nicht nur zu seinen Ausführungen über die „Metamorphose der Pflanzen“ inspiriert, sondern gleichzeitig den Wandel seiner Existenz eingeleitet. Die Selbstfindung des Einzelnen kann nach Goethe nur gelingen, wenn sie als Teil einer Metamorphose geschieht. „Folglich kann es kein wirkliches Bild des Individuums geben, nur Facetten, die beständig in Bewegung bleiben“ folgert Rüdiger Görner aus diesem Gedanken.

Was führt aber zu einer tiefgreifenden Veränderung oder Erweiterung der eigenen Persönlichkeit? Neben der Kraft von Orten, der Begegnung mit Menschen, kann das Abenteuer und die Annäherung an die Natur dazu führen. Diese Erfahrungen werden Teil von jeder Lebensreise.

„Der ganze Lebenslauf eines Menschen ist Verwandlung. Alle seine Lebensalter sind Fabeln derselben, und so ist das ganze Geschlecht in einer fortgehenden Metamorphose. – Blüten fallen ab und welken, andere sprießen hervor und treiben Knospen: der ungeheure Baum trägt auf einmal alle Jahreszeiten auf seinem Haupte“ schrieb Herder.

Der Philosophieprofessor Emmanuelle Coccia widmet sein neuestes Buch „Metamorphosen“ diesem Phänomen. Dabei verbindet er Philosophie und Evolutionsbiologie und definiert das Verhältnis zwischen Mensch und Natur neu. Im Mittelpunkt steht nicht das Individuum, viel mehr das ganze Leben auf der Erde, mit allen seinen komplexen Relationen und Bezügen. Der Philosoph denkt dabei Wandel und Veränderung nicht im Sinne von Konversion oder Revolution, sondern in der Gestalt einer allumfassenden, andauernden Metamorphose.

Dieser Prozess, beschreibt Coccia, geschieht in und um uns, ob wir wollen oder nicht:

Bei einer Metamorphose gründet die Kraft, die uns durchdringt und verändert, nicht auf einen bewussten und persönlichen Willensakt. Sie kommt anderswoher, ist älter der Körper, den sie formt und wirkt jenseits aller Entscheidung.“

Man erinnert sich hier an zahlreiche Reiseberichte, die den bewussten oder unbewussten Moment der Verwandlung nacherzählen. Für Ilija Trojanowski ist das höchste Ideal des Reisens die Veränderung des Reisenden. Hier berühren wir die Essenz des Reisens. Wo diese Orte sind, und unter welchen Umständen man diese Erfahrungen macht, bleibt individuell unterschiedlich. Rainer Maria Rilke – um nur ein Beispiel zu nennen, – fand seine europäische Gestalt, in dem Moment, als er von Capri auf die Amalfatinische Küste blickte. Der Satz „Man ist immer ein(e) Andere(r), wenn man von seiner Reisen zurückkehrt“ beschreibt letztlich die Kraft der Metamorphose.

Leseempfehlungen:

Rüdiger Görner, Goethes geistige Morphologie, Universitätsverlag Winter, 2012

Ilija Trojanow, Gebrauchsanweisung fürs Reisen, Piper Verlag, 2018

Emanuele Coccia, Metamorphosen, Carl Hanser Verlag, 2021