Mit Willemsen unterwegs

Das Erlebnis einer Lesung mit Roger Willemsen bleibt für tausende BesucherInnen unvergessen. Wie kein Zweiter verfügte der – leider schon 2016 verstorbene – Schriftsteller über das Vermögen sein Publikum in den Bann zu ziehen. Seine sprachliche Meisterschaft, verbunden mit Einfühlsamkeit, Witz und Tiefe und die Weite seiner Themen, vom Menschlich-Allzumenschlichen bis in das Politische, faszinierten. Wer sich in diesen Jahren auf seiner Webseite informierte, staunte über das Pensum des Allrounders. Reisen, Arbeiten und Kunst ließen ihn kaum einen Abend zur Ruhe kommen.

Die Kritik musste anerkennen, dass dieser Mann nur kurz am Bahnhof zu sichten war und sogleich wieder im Zuge saß. Immer ein Schritt voraus, ein Reisender, in jeder Hinsicht. Die Themen entsprechend vielfältig: Willemsen erkundete Deutschland nach der Wende, besuchte die Enden der Welt, verbrachte Monate im Deutschen Bundestag, wurde in Bangkok oder Kabul gesichtet und erforschte den „Knacks“ in der menschlichen Existenz.

Wer die Essenz des Unterwegs-Seins dieses großen Mannes fassen möchte („im Transit“) findet eine gelungene Übersicht entsprechender Szenen, Anekdoten und geistreicher Kommentare in dem Sammelband „Unterwegs. Vom Reisen“, im Jahr 2020 herausgegeben von Insa Wilke. Willemsen: „Man ist immer entweder ein Heimischer oder ein Fremder. Ich bin immer wieder lieber ein Fremder.“

In „Best Agers Reisen“ beschreibt er die existentiellen Grundbedingungen jeder gelungenen Expedition. Scheitern ist immer eine Möglichkeit, dann, wenn man nicht „transzendiert“, nichts findet was das Herz bewegt und so das Zwecklose der eigenen Bewegung, oft im Einklang mit dem parallel verlaufenden Arbeitsritus, zu akzeptieren hat. „Dass er verreist war“, so stellt Willemsen fest, „das erkennt der Mensch an den unverwechselbaren, an einen Ort gebundenen Erfahrungen, die er nur dort machen konnte.“ Der erfahrene Reisende sucht so nach Zielen jenseits der Postkartenschönheit, denn er ahnt, dass nichts mehr ist, wie es einmal war. Das Reisen macht den Jungen reifer und den Älteren jugendlicher.

Wunderbar liest sich der veröffentlichte Vortrag über die Poetik des Fortfahrens. Willemsen zeigt sich hier selbst als aufmerksamer Leser, der seine Ausführungen mit zahlreichen Zitaten aus der Welt der Literatur versieht. Er erzählt die Geschichte des Reisens, der Reiseliteratur, die für ihn eine Frage der Erkenntnis, des Verstehens und der Sinnsuche ist. „Der Reisende in dieser Bedeutung existiert im Zeitmaß des Verweilens, der Tourist lebt in der Kategorie des Augenblicklichen, sein Medium ist der Schnappschuss, die Manifestation seiner Erfahrung das Souvenir“ schreibt er.

Wer sich aufmacht, das Verblüffende, das Enttäuschende das Einzigartige und das Faszinierende des Fortfahrens zu entdecken, wird durch diese Lektüre vorbereitet. Eine Sehschule. Das Reisen ist für Willemsen ein Gleichnis: das Fest des Lebens und die eigene Frage in Gestalt. Seine letzte Fahrt, nachdem er von seiner unheilbaren Krankheit erfuhr, führte ihn nach Norwegen. Er saß, wie man erzählt, an seinem Lieblingsort an einem Fjord.

Roger Willemsen, Unterwegs – vom Reisen, Fischer Taschenbuch, 2020