Mythos Côte d´Azur

Vermutlich jeder Reisende verfügt schon vor der Abreise über Bilder, Informationen und Erinnerungsspuren, die die Wahl seiner Reiseziele, sei es bewusst oder unbewusst, bestimmen. Besonders gilt dies, wenn seine Destination einen Mythos verkörpert. Sonne, blaues Meer, Promenaden, Kasinos und Luxushotels: Das ist die populäre Vorstellung von der Riviera.

Den Begriff der Côte d´Azur gibt es erst seit 1887. Wie kaum in einer anderen Landschaft der Welt, überlagern und durchdringen Literatur, bildende Kunst und Film unsere Eindrücke dieser Region. Hinzu kommen Bücher, die das Thema auf unterschiedlichste Weise ausmalen und den Leser – auch wenn er noch gar nicht losgefahren ist – in die Welt der Imagination einführen.

„Die Wahrheit im emphatischen Sinne hat einen narrativen Charakter“ argumentiert der Philosoph Byul-Chul Han. Das Ende der großen Erzählungen, das die Postmoderne einleitet, vollendet sich in seiner Sicht in der Tristesse der Informationsgesellschaft. Tatsächlich gibt es kaum eine Landschaft, die so oft photographiert wurde und über die eine so unüberschaubare Zahl von Reiseführern oder Internetseiten berichtet. Es sind aber keine klassischen Reisebücher, die die Augen für das eigentliche Wesen dieser Küste öffnen.

Der französische Schriftsteller Guy de Maupassant (1850-1893) ist im Jahr 1886 auf seinem Segler Bel-Ami an der Küste entlang gesegelt. Genau in der Zeit, als der Mythos der Riviera entsteht. Sein Buch „auf See“ ist kein Reiseführer, sondern eine Beschreibung seiner inneren Kämpfe und die Darstellung äußerer Landschaften unter dem Eindruck von Land und Meer. Das Werk ist eine Hymne an die Natur, aber stellenweise eine Verfluchung des Lebens.

Seine Stimmungswechsel beschreibt er offen: „An manchen Tagen bin ich so entsetzt über das, was ist, dass sich am liebsten tot wäre. Und: „An manch anderen hingegen freue ich mich an allem wie ein Tier.“ Immer wieder erfährt er die Langeweile, die Grundstimmung des Nihilismus, die auch die Aussicht auf die Schönheit der Küste nicht vertreibt: „So sehr spüre ich die unwandelbare Eintönigkeit von Landschaften, Gesichtern und Gedanken, dass ich aufs Äußerste darunter leide.“

Der Erzähler nimmt den Leser auf zahlreiche Landausflüge mit, beschreibt Städte wie St.Tropez, Nizza oder St. Raphael, er erklärt den Esprit der Franzosen auf und begegnet den Widersprüchen der Gesellschaft. Dabei hat er auch Zeit für eine ironische Selbstreflexion über die Besessenheit des Schriftstellers: „Sein Auge ist wie eine Pumpe, die alles aufsaugt, wie die Hand eines fortwährend tätigen Räubers.“

In seiner Erzählung beeindruckt die Schilderung des Meeres, die seiner existentiellen Grundstimmung, zwischen Offenheit und Verzweiflung schwankend, den Rahmen gibt. In der Nacht beobachtet er das Auftauchen eines Schiffes: „Nichts ist seltsamer, fantastischer und ergreifender als diese blitzartigen Erscheinungen auf dem Meer.“ Am Tag erlebt er einen Sturm: „Wer diese hohe See nicht gesehen hat, dieses Meer von rasch und schwer dauerrollenden Bergen, getrennt durch sich jede Sekunde fortbewegende, sich unentwegt füllende und neu bildende Täler, ahnt nichts, weiß nichts von der geheimnisvollen, furchterregenden, schrecklichen Gewalt der Wogen.“

Guy de Maupassant ist ein engagierter politischer Schriftsteller, den die Verherrlichung des Krieges, durch den deutschen General Moltke, der das Wesen der Schlacht als einen geistigen Akt gegen den „scheußlichen Materialismus“ verklärt hatte, empört. „Ach! Lasst uns diese absoluten Wahrheiten ausrufen, schneiden wir dem Krieg die Ehre ab“ schreibt der er dazu, um gleich zu resignieren: „Vergebliche Wutausbrüche, die Empörung eines Dichters. Der Krieg steht in höheren Ehren denn je.“

Der Schrecken, der von Krieg und Nationalismus ausgeht, steht im Mittelpunkt des Lebens der Geschwister Erika (1905-1969) und Klaus Mann (1906-1949). Der Einsatz gegen den Faschismus hat das Werk der beiden Schriftsteller geprägt. In ihrem Buch über die Riviera aus den frühen 30er Jahren spielt die große Politik keine Rolle. Nur kurz, am Ende ihrer Fahrt entlang der Küste erwähnen sie eine Beobachtung in Genua: „Meistens tut sich etwas Militärisches, ein Umzug von Schwarzhemden, eine kleine Parade. Schweigen wir hiervon, kein Wort über Politik, sonst gäbe es viele und böse Worte.“

Ihr Reisebericht erscheint 1931 in der Reihe „was nicht im Baedeker steht“ und ist eine Art Vorläufer des alternativen Reiseführers. Sie sind mit dem Auto unterwegs. An der Côte d`Azur erfahren sie „die Kraft dieser zugleich beruhigend sanften und bunten Landschaft, konzentrierend zu wirken, wenn man Konzentration und produktive Sammlung sucht.“ Immer wieder tauchen Maler, Schriftsteller und Lebenskünstler in ihren locker gehaltenen Beschreibungen auf.

„Wo lasse ich, um Gottes Willen, all mein Geld? Um Gottes Willen, wohin damit?“ Die ökonomische Frage, die in den 20er und 30er Jahren zum Schicksal wird, taucht immer wieder, in Anspielungen und konkreten Zahlen, auf. Sie erwähnen auf jeder Seite die Preise der teuren Hotels, verwiesen auf günstige Restaurants und suchen nach Wegen, mit kleinem Budget, den Reiz der Küste zu erleben. „Das ist die Gegend, wo sie Grundstücke kaufen sollten!“ Die Autoren werden nebenbei sogar zu vorausschauenden Finanzberater.

Der Leser besucht mit ihnen die Kasinos, die in vielen Städten einen gesellschaftlichen Mittelpunkt der spielenden Klasse bilden. „Das Rollen der Kugel symbolisiert auf eine primitive und eben fast kindische vereinfachte Art die die gnadenlose Willkür des Schicksals“ schreiben sie, während sie Menschen beobachten, die am Spieltisch in Sekunden arm oder reich werden. Ein Spiel, das sich an den Börsen wiederholt. „Kasinokapitalismus“ nennt man dieses Phänomen heute.

In Juan-les-Pins fällt ihnen ein berühmtes Bauwerk auf: „Wenn sie zufällig in Juan wohnen, tun sie es nicht unter dem Hotel Provencal, das, eine Burg des Reichtums, von erhöhter Stelle übers Meer herrscht“. Die atmosphärische Eigenheit des Seebades und die Entwicklung seiner Architektur steht im Mittelpunkt eines neueren Buches von Lutz Hachmeister über die Geschichte der Côte d´Azur.

Das Hotel Provencal, 1927 eröffnet, war über fünf Jahrzehnte Geschäftsmodell und gesellschaftliches Zentrum des Seebades. Entwickelt hat das Projekt Frank J. Cloud (1877-1956) US-Multimillionär und jüngster Sohne eines amerikanischen Oligarchen. Die Investitionen der neuen Reichen schaffen ein Gegenmodell zu den existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes. Hier treffen sich Touristen, Urlauber und Reisende aus allen Schichten. Picasso, Hemingway, Künstler und Musiker garantieren dem Ort öffentliche Aufmerksamkeit.

Die Konzentration auf diesen Ort erlaubt es dem Autor in zahlreiche Schicksale einzuführen, die Geschichten von Hoteliers, Spekulanten, bis hin zu den Opfern der kriminellen Machenschaften der Nationalsozialisten. Damit gelingt ihm ein, über Jahrzehnte aufgespanntes, einmaliges Sittengemälde. Die Metamorphose des Bades ist nach dem 2. Weltkrieg nicht abgeschlossen. Ein Kapitel behandelt die Etablierung des berühmtem Jazz-Festivals, dass in unmittelbarer Nähe des Hotels, inzwischen eine Ruine, stattfindet. Das Bild des Ortes verändert sich stetig, es wird modernisiert, neue Ferienanlagen werden gebaut, andere abgerissen.

Hachmeister erzählt so über das rätselhafte Nebeneinander von architektonischem Verfall und Superluxus an diesem Küstenabschnitt. Sein Fazit: „Welthistorische Umwälzungen kümmern die Côte d´Azur nicht, denn hier wechselt nur die Nationalität der vermögenden Investoren“.

Gibt es, neben der landschaftlichen Schönheit, noch den ursprünglichen Charme der Region? Wohl kaum. Vermutlich wie man ihn nur in den Gemälden der Maler finden. Claude Monet wohnte 1888 in dem Seebad und schuf seine berühmten impressionistischen Bilder vom Cap d´Antibes und dem menschenleeren Strand von Juan-les-Pins.

Literatur:

Guy de Maupassant , Auf See, Mareverlag, Hamburg

Erika und Klaus Mann, Das Buch der Riviera, Rowohlt Verlag, Hamburg

Lutz Hachmeister, Hotel Provencal, eine Gesichte der Côte d“Azur, Bertelsmann Verlag, München