Es ist eine Kunst, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Reisen kann in gewissem Maße als eine Form der Katharsis erlebt werden. Der Prozess der Katharsis, also die emotionale Reinigung oder Läuterung, ist nicht nur auf Kunst und Theater beschränkt, sondern kann unterwegs durch intensive, transformative Erfahrungen entstehen. Reisen, insbesondere wenn es mit Herausforderungen und intensiven Erlebnissen verbunden ist, führen ebenso zu einer tiefen emotionalen Reinigung. Reisen ermöglicht nicht nur, dem Alltag zu entfliehen und die gewohnten, vielleicht stressigen oder belastenden Umstände hinter sich zu lassen, sondern einen Raum für Selbstreflexion und innere Klarheit zu schaffen.
Vom Leben im richtigen Augenblick: Zu den eindrücklichen Erfahrungen des Reisens gehört die existentielle Zeiterfahrung. Wir alle kennen das Phänomen: die Zeit, die man reisend verbringt, kann lang werden oder sehr schnell vorbei sein. „Eine Stunde kann je nach unserer Stimmung, unserem Lebensalter oder unserer Tätigkeit dahinkriechen oder dahinrasen, sich beschleunigen oder verlangsamen, aber auf der Uhr ist jede Stunde gleich“, schreibt die Philosophin Joke Hermsen.
In ihrem faszinierenden Buch über die Kunst des „Kairos“, weist sie auf eine andere Zeiterfahrung hin, die auch für uns bedeutsam ist: „Während Chronos für die universelle, statische und quantitative Zeit steht, die notwendig ist, um die Zeit in einen linearen Zusammenhang zu versetzen, steht Kairos für den subjektiven, dynamischen und qualitativen Moment, der gerade den spezifischen und sich ständig verändernden Umständen Rechnung trägt und darum zu einem Wandel der Erkenntnis führen kann.“
Man soll beim Reisen die Erwartung für diese besondere Momente, jenseits der Reiseplanung, hoch halten. Wir denken über diesen Doppelcharakter der Zeit nach: den Unterschied zwischen der chronologisch vorgestellten Uhrzeit und den Augenblicken, wo sie die Möglichkeit einer erweiterten Erfahrung des Bewusstseins birgt. Wir haben chronisch zu wenig Zeit – Chronos, der alte Mann mit der Sanduhr in Hand, versinnbildlicht das ewige Voranschreiten der Zeit, der wir so oft hinterherhetzen.
Für die griechischen Dichter war Kairos „alles, was für den Menschen gut ist.“ Im Moment der Aufmerksamkeit sehen wir eine Zäsur in den gewohnten Ereignisketten und die Möglichkeit echter Veränderung. Der Philosoph Henri Bergson schrieb schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts über die Schwierigkeit in der Moderne, sich wiederzufinden. „Die meiste Zeit leben wir unserer selbst äußerlich, wir gewahren von unserem Ich nur sein entfärbtes Phantom, den Schatten (…). Wir leben eher für die Außenwelt als für uns (…) eher als daß wir selbst handeln, werden wir gehandelt.“
Vielen Reisenden fällt es in diesen Zeiten schwer, aus der Informationsflut unserer Zeit, an die uns unsere Smartphones permanent erinnern, auszusteigen. Heute ist es vor allem die Angst und die Depression, Ablenkung und Zerstreuung, die das Seelenleben gefährden. „Die innere Emigration funktioniert nicht mehr, weil die Infiltration des Realen uns in jedem Rückzugsraum einholt“, stellt der Philosoph Peter Sloterdijk in einem Interview mit der „Augsburger Allgemeinen“ treffend fest. Wir müssen vorsichtig sein – gerade unterwegs – mit den äußeren Eindrücken, die uns erreichen. Die Unterscheidung, was tatsächlich wichtig ist oder was nicht, gehört zu den bedeutsamen Übungen.
In der griechischen Philosophie sind es die Tragödien, die dem Menschen die Bewältigung der Affekte von Furcht und Mitleid aufzeigen sollen und zu einer „Kartharsis“, einer Reinigung, führen sollen. „Affekte sind“, nach Aristoteles, „Erregungen, infolge deren die Menschen ihre Stimmung ändern und verschiedenartig urteilen, Erregungen, die mit Lust- und Unlustgefühlen verbunden sind, wie Zorn, Mitleid, Furcht und andere der Art sowie ihre Gegensätze.“ Der Philosoph argumentierte, dass die Affektbeeinflussung nicht schädlich sei. Denn der Ablauf der Tragödien, mit ihrer Lösung des Konfliktes, befreit von dem Druck, der durch sie erregten Affekten.
Sein Lehrer Platon war skeptisch angesichts dieser Form der Reinigung. Er befürchtete generell, dass geistige und emotionale Einflüsse in der Seele eine langfristige, unbeherrschbare, oft negative Eigendynamik entfalten. In diesem Jahrhundert erleben wir zahlreiche Tragödien, Kriege und Herausforderungen, von denen man sagt, dass es keine simplen Lösungen mehr gibt. Die Flut der Bilder, die Darstellung von Gewalt und Exzessen, die Vielzahl wahrer und falscher Informationen beeinflussen den eigenen Zustand unbemerkt. Es fällt schwer abzuschalten. Man neigt heute dazu, gerade wenn man an die irrationalen Gewaltausbrüche denkt, die Einwände Platons wieder ernster zu nehmen.
Fest steht, der Blick in die Abgründe unserer Zeit bleibt nicht folgenlos. Das Reisen ermöglicht in eine andere Dimension der „zeitlosen“ Erfahrung einzutauchen.
Literatur:
Jake Hermsen, Kairos – vom Leben im richtigen Augenblick, Harper Collins Verlag, Hamburg 2023