Es ist ein atemberaubender Ausblick: Vor der Villa Kommunale in Sorrent sitzen wir auf einer Bank und bestaunen über das blaue Meer hinweg den Vesuv. Es ist eines der Motive der Italiensehnsucht der Deutschen. In seiner italienischen Reise beschrieb Goethe seinen Aufenthalt in der Gegend und eine Wanderung auf den Vulkan. Meer, Landschaft, Kultur und Fauna bilden eine einmalige Kulisse. Über das Durcheinander in Neapel schrieb der Dichter: „In so großer Gesellschaft und Bewegung fühl´ ich mich erst recht still und einsam, je mehr die Straßen toben, desto ruhiger werd´ ich.“
Einsam ist es wahrlich nicht in Sorrent. Vor dem Hafen ankern zwei große Kreuzfahrtschiffe. Der Massentourismus hat den Ort fest im Griff, ohne den zeitlosen Charme der Stadt ernsthaft zu gefährden. Zu einmalig sind die Ausblicke, die kleinen Gassen und die vornehmen Hotels auf den Klippen über dem Meer. Trotz des Trubels findet der Reisende Plätze oder duftende Gärten, die zum Verweilen einladen.
Die Stadt ist der Geburtsort des Dichters Torquato Tasso (1544), den Goethe in seinem gleichnamigen Drama verewigte und auf dessen Spuren er selbst in den Straßen unterwegs war. Wir machen uns, nach der Lektüre der Informationsbroschüre der Stadtverwaltung, auf den Weg, um zwei, dem berühmten Sohn der Stadt gewidmete Räume im Hotel Imperial Tramontano zu besichtigen. An der Rezeption schüttelt man nur den Kopf: Die Zimmer, so wird uns mitgeteilt, gibt es nicht mehr. Wir nutzten die Gelegenheit um einen Blick in den botanischen Garten des Hauses werfen.
Auf der Piazza Tasso entdecken wir ein Denkmal des Dichters, das keine große Aufmerksamkeit auf sich zieht. Rundherum pulsiert das Leben: Reisegruppen treffen sich hier, Menschen drängen in die Restaurants, Schwärme von Vespas rasen vorbei. Über die Einkaufsstraße, den Torso Italia, schlendern wir zu Fuß zurück auf den Campingplatz. Die Anlage liegt an einem Steilhang. Das Wohnmobil steht weit unten, auf den günstigen Plätzen, die keinerlei Aussicht bieten. Dafür ist eine Badestelle unter den Klippen in einigen Minuten zu erreichen. Rund um unser Gefährt sind die ansteigenden Terrassen mit kleinen Hütten besetzt.
Am Abend treffen dort einige Dutzend Jugendliche aus Deutschland ein. Damit sinkt der Altersdurchschnitt der Camper in dieser Anlage beachtlich, ebenso steigt der Geräuschpegel. Die jungen Leute benehmen sich durchaus, unterhalten sich in kleine Gruppen bis in die Nacht hinein, die Themen, die wir anhand der zu uns dringenden Wortfetzen deuten, sind bunt gestreut. Alle haben ihren Spaß. Es ist allein der unglücklichen Topografie geschuldet, dass das lebensfrohe Gebrummel, wie in einem Lautsprecher verstärkt wird. Kurzum, wir finden hier keinen Schlaf.
Am nächsten Morgen beantragen wir bei der flexiblen und verständigen Administration einen neuen Stellplatz. Das ist kein Problem. Schließlich enden wir weiter oben auf einer Terrasse unter ein paar Olivenbäumen. Uns ist auf Umwegen ein Aufstieg gelungen, der sich lohnt. Wir sehen von unseren Gartenstühlen auf den Golf von Neapel und in der Ferne auf den Vesuv. Und, es ist still hier.
Zurück in Sorrent trinken wir, nach der kurzen Nacht, einen verdienten Cappuccino im Lieblingscafé und entschließen uns spontan zu einem Besuch des Museums Correale di Terranova. Hier gibt es viele Dinge zu bestaunen: Porzellan, Bilder und römische Skulpturen. Das Interesse erweckt eine Sonderausstellung, mit einem Titel, der uns anspricht: „Still life – vite silenziose.“
In den abgedunkelten Räumen sieht man zerbrechliche Dinge, Vasen, Früchte, Blumen und Arrangements, die Maler in ihren Bildern verewigt haben. Hier wird das Auge geschult, unter dem überwältigenden Eindruck des Spektakels der Landschaft draußen, die unscheinbaren Phänomene der Umwelt nicht zu vergessen und wahrzunehmen. Direktor Paolo Jorio erklärt uns die denkwürdige Absicht der Ausstellung: „Stillleben enthalten symbolische Bedeutungen, zeigen Geschichten über verborgene Geheimnisse, Zeichen der Existenz und des Alltags, poetische Spuren kleiner Dinge, stille Erinnerung an das Vergehen der Zeit: den Lauf der Jahreszeiten, Leben und Tod.“
Am Abend entdecken wir in einer Gasse ein anderes Museum, das dem berühmten Holzhandwerk in der Stadt gewidmet ist. Das Thema ist nicht unseres, aber die Tür steht offen und wir treten ein, wohl wissend, dass die Öffnungszeit deutlich überschritten ist. „Geschlossen?“, fragen wir rhetorisch einen freundlichen Herrn an der Kasse. Er lächelt und richtet für spät Ankommende eine Ausnahme ein. Das gefällt uns – und wir entscheiden, den beachtlichen Obolus zu entrichten. Die Instruktionen, wie die 3. Stockwerke abzulaufen sind, um den ganzen Schatz in der richtigen Reihenfolge zu entdecken, sind klar. Dem Herrn des Hauses ist seine Begeisterung anzumerken.
Auf unserem Gang durch die dunklen Räume wird jeweils von Geisterhand das Licht angeschaltet. Es ist ein wenig unheimlich. Überall stehen Schmuckstücke aus Holz, Truhen, Betten und Schreibtische. Wir lernen ein neues Wort: „Intarsien“. Diese Dekorationstechnik, ursprünglich von den Mauren nach Europa eingeführt, fand im 19. Jahrhundert große Beachtung bei den Reisenden. Das ist alles hübsch anzusehen.
Nach dem Rundgang verabschieden wir uns, doch der Mann an der Kasse schüttelt energisch den Kopf: „Sie haben die Meister im 3. Stock nicht gesehen!“ Offensichtlich hat er uns mit den Überwachungskameras verfolgt und bemerkt, dass wir seinen Rat nicht vollständig befolgt haben. Ohne jeden Widerspruch aufkommen zu lassen, bringt er uns zu dem Fahrstuhl. Wir sind also noch nicht entlassen.
Im 3. Stock lesen wir die Lebensläufe der Intarsien-Meister des 19. Jahrhunderts und betrachten nochmals – diesmal mit gesteigerter Aufmerksamkeit – ihre Werke. Die Handwerker – zum Beispiel Michele Grandville, seine Söhne und seine Schüler – haben ihr Leben dieser Arbeit gewidmet. Ihre Leitmotive sind Alltagsszenen in Sorrent und stellen Szenen dar, die so kaum noch zu finden sind. Das Geheimnis dieser Kunst ist ihr Verhältnis zu einer verlorenen Zeit und die Liebe für das Detail.
Zum Abschied nickt uns der Mann freundlich zu. Er ist zufrieden, dass wir die Meister gesehen haben. Wir sind es auch.