Der Bilderjäger

Vor unserer Abreise in die Schweiz besuchen wir die Reiseabteilung einer Berliner Buchhandlung. Die Zeit drängt und wir wählen nach dem Zufallsprinzip einen Titel: „Fundstücke eines Bilderjägers“. Auf dem Flug lesen wir das Buch von dem uns bisher unbekannten Nicholas Bouvier. Der Genfer war ein leidenschaftlicher Reisender und Abenteurer. Eine seiner bekanntesten Reisen führte ihn in den 1950er Jahren, in einem umgebauten Fiat Topolino, zusammen mit seinem Freund Thierry Vernet von der Schweiz nach Afghanistan. Diese Reise beschrieb er in seinem Buch „L’Usage du Monde“ (Die Erfahrung der Welt), das ein Meilenstein in der französischen Reiseliteratur wurde.

Für Bouvier ist seine Heimatstadt ein Eldorado der Iknographen, die Bilder aus der Welt der Politik, Religion, Zoologie und Pflanzenkunde sammeln. Der Bilderjäger führt uns in einen Kosmos, erzählt langsam die Geschichten der Illustrationen, die der Sammler meist in alten Bücher gefunden hat. Während das Flugzeug mit leichtem Zittern durch die Wolken gleitet, denken wir an den Bildersturm heute, der uns in den sozialen Medien überfällt, oft pornographisch Emotionen aufzwingt. Im Zeitalter der Reproduzierbarkeit – wie es Walter Benjamin formulierte, mangelt es vielen Photographien an einer Aura, an Distanz, an einem Geheimnis.

Genf ist zweifellos eine faszinierende Stadt. Hier mischen sich Einheimische mit Diplomaten, Touristen, Finanzjongleure, Menschenrechtlern und Waffenhändler. Angezogen von der Idee der Schweizer Neutralität, siedelten sich hier zahlreiche internationale Organisationen an. Es gibt eine lokale Debatte über die Zukunft dieser Parteilosigkeit, man fragt in diesen Tagen, ob diese zeitgemäß ist. Mitten in der Stadt, am Genfer See sehen wir in das klare Wasser, auf die Berge am Horizont, die im Wind klirrenden Flaggen – typische Elemente auf Schweizer Postkarten: eine Bilderbuchlandschaft. Am anderen Ufer thront das „Beau Rivage“, ein pompöses Hotel. Ein Bild drängt sich uns auf. Wir erinnern uns an die Aufnahme des verstorbenen Ministerpräsidenten Uwe Barschel, der in einem der Hotelzimmer in der Badewanne tot aufgefunden und von einem Journalisten fotografiert wurde. Ein alter Medien-Skandal der 80er Jahre, Mord oder Selbstmord, bis heute ungeklärt. Wir staunen über die Langzeitwirkung von Bildern.

Mit dem Bus fahren wir zum Platz der Nationen. Dort ist ein Stand mit israelischen Flaggen aufgebaut. Ein Aktivist hebt ein Schild, auf dem steht „bring them home!“, in den Himmel. An einer Wand Bilder von jüdischen Geiseln, Opfer des terroristischen Anschlages vom 7. Oktober: Männer, Frauen, Kinder. In den Gesichtern spiegelt sich die Verzweiflung. Auf der anderen Seite des Platzes, direkt vor dem UN-Gebäude, stellen sich drei Jugendliche auf. Mädchen aus der Schweiz, glauben wir. Sie werfen sich eine palästinensische Flagge über die Schultern, zeigen in Blickrichtung zum UN-Palast das Victoryzeichen. Ein junger Mann macht ein Foto von ihnen. Dieser Moment der Solidarität wird in wenigen Minuten virale Aufmerksamkeit erregen.

Den Hügel hinauf gehen wir zum Museum des internationalen Kreuzes. In den Räumen wird die Entstehungsgeschichte der Organisation erzählt, Einsatzorte vergangener und aktueller Tragödien präsentiert. Es gibt ein Zimmer, in dem man auf ein Meer von Karteikarten stößt, eine Art Ordnung, die versucht das Schicksal von Millionen Kriegsgefangenen und Verschollenen aus dem 1. Weltkrieg zu verwalten. Hoffnung vermittelt hier eine andere Erzählung, die Lehren aus verschiedensten Kulturen und Religionen integriert, die sich alle um einen Mindeststandard von menschlicher Würde drehen, gerade im Krieg. Die islamische Welt präsentiert ein Zitat aus einem andalusischen Rechtsbuch aus dem Jahr 1280: „Die Vernichtung von Frauen, Kindern und Kranken ist verboten!“

Wir kaufen ein Buch von Henry Dunant, dem Gründer des internationalen Komitees des Roten Kreuzes im 19. Jahrhundert und setzen uns in das Museumscafé. Wir lesen seine Erinnerungen an Solferino. Der Ort in Italien war Schauplatz einer Schlacht zwischen Franzosen und Österreicher am 24. Juni 1859. Auf einer touristischen Reise gerät der Autor zufällig in diesen Krieg mit Abertausenden Toten, ein furchtbares Gemetzel, voller barbarischer Brutalität. Einer der wenigen Standards, die beiden Seiten akzeptierten, war es keine Lazarette anzugreifen. Durant kümmert sich mit einigen Helfern um die Sterbenden, Verletzten, organisiert Krankentransporte, tröstet Verwundete. Die Schilderungen sind so realistisch, der Schrecken so eindrucksvoll beschrieben, wie es – wie wir finden – keine Bildersprache vermag. Von diesen Erfahrungen wird später die erste Genfer Konvention geprägt und der Versuch gewagt werden, Meilensteine der Humanität zu setzen.

Die Welt ist in diesen Tagen erschüttert von den Bildern des Terrorismus in Israel und trauert über 1400 jüdische Opfer. Wir denken über die Stellungnahmen des UN-Generalsekretärs vom Tage nach. Einerseits, die Verurteilung des Terrors der Hamas, anderseits, der Aufruf an alle Seiten zur Wahrung des internationalen Rechts. In den sozialen Medien hat eine Schlacht der Bilder begonnen. Die Zivilbevölkerung im Gaza Streifen bezahlt nun den Preis für die Untaten der sogenannten Glaubenskämpfer. Das Mindeste, was zu erwarten ist: Die Unterscheidung zwischen Palästinensern und Terroristen. Die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten, dass habe wir im Museum des Roten Kreuzes gelernt, ist Basis für alle Zivilisationen. Wird die internationale Politik der Region endlich Frieden bringen? Im Moment sieht es trostlos aus.

Die Genfer Altstadt ist ein Besuch wert. In den Geschäften gibt es Schokolade und teure Uhren. In einer Gasse fasziniert uns das kleine Büro „zur Lösung internationaler Konflikte“. Der Blick durchs Fenster: zwei Männer in Anzügen sitzen an ihren Laptops und arbeiten an wichtigen Problemen, immerhin. An der Kathedrale entdecken wir das Museum der Reformation und entschließen uns zu einem spontanen Besuch. Nicholas Bouvier schrieb, dass zur Zeit der Entscheidung für die neue Religion zwischen 1530 und 1540, die Begriffsdebatten und die religiöse Polemik zu Genfs Lebensinhalt wurde. Bouvier im Rückblick: „Das calvinistische Genf ist ein Zündfass, eine Brandbombe und das ganze katholische Europa wünscht sich sehnlichst, es zu zerstören und dem Erdbeben gleichzumachen.“

An der Kasse werden Bücher verkauft: Luther und die Juden, zum Beispiel. Die revolutionäre Idee des Protestanten: Gläubige lesen die Bibel künftig selbst, lobenswert, finden wir, allerdings werden in einigen der Lutherischen Thesen herbe antisemitische Aussagen verbreitet. Die Nationalsozialisten werden sich Jahrhunderte später unter Anderem auf die ökonomischen Theorien Luthers über den Zins berufen, in ihrer Gottlosigkeit komplett pervertieren und die schlimmste Judenverfolgung aller Zeiten organisieren. Nach der Verfolgung ist es für viele Juden nicht mehr denkbar, in Deutschland zu leben. Sie finden einen Fluchtort: Israel.

Das Museum ist sehenswert und zeigt – neben der Geschichte der Religionskriege in Europa – das humanitäre Engagement der AnhängerInnen dieses Glaubens. Auf Schaubildern sieht man die Expansion der evangelikalen Lehre in alle Welt. Im 19. Jahrhundert findet diese Verbreitung im Rahmen der Kolonialisierung statt: in Südafrika, im arabischen Raum, in Amerika und in China. Wir denken wieder an den Gründer des Roten Kreuzes, Henry Dunant. Der Unternehmer betrieb damals ein Geschäft in Algerien, eine Kolonie Frankreichs. Der Glaube an die Gültigkeit universeller Werte ist seit den Zeiten der Kolonialpolitik im globalen Süden erschüttert. Der Vorwurf richtet sich gegen westliche Doppel-Standards. Wie in jedem Glaubenssystem kämpft man gelegentlich gegen Zweifel an. Sicher ist, das Leben schafft Widersprüche, sie zu ertragen gehört dazu.

Zurück in Deutschland kaufen wir weitere Bücher von Nicolas Bouvier. Der verstorbene Roger Willemsen lobte „Skorpionfisch“, für ihn eines der größten Reisebücher die je geschrieben worden sind. Und wir lesen „Reiselust“, mit seinen wunderbaren Abhandlungen über die Verwandtschaft von Lesen und Schreiben. Der Schriftsteller ringt hier um die Sprache, um Worte, denn „sowohl das Beste auch das Schlimmste unseres Erlebens lässt sich nicht sagen“. Bouvier ist ein Meister seines Faches und wir haben einen weiteres Buch für unsere Schatztruhe gefunden.

„Wenn das Schreiben sich dem nähert was es sein müsste, ist es der Reise sehr nahe, weil es ein Verschwinden ist wie das Reisen. Weit davon entfernt, eine Bestätigung des Reisenden zu sein, wie man allgemein glaubt, bietet es dessen Auflösung zugunsten einer Realität, die man erreichen möchte. Diese Leichtigkeit ist das grösste Geschenk, das das Leben einem machen kann, doch man muss bereit sein es anzunehmen.“

Literatur:

Henry Dunant, Eine Erinnerung an Solferino, Hg. Schweizer Rotes Kreuz, 2016
Nicolas Bouvier, Reiselust, Lenas Verlag, 2013
Nicolas Bouvier, Skorpionfisch, Lenos Pocket, 2016
Nicolas Bouvier, die Erfahrung der Welt, Lenas Pocket, 2019