Wir stehen abends mit dem Wohnmobil auf einer Wiese in Sichtweite des Castel del Monte. Die berühmte Burg erscheint im Sonnenlicht und unter dem blauen Himmel wie aus einer anderen Welt zu stammen. Über den Sinn des Gebäudes ist gerätselt worden, wobei der achteckige Grundriss die Fantasie der Besucher beflügelte. Die eher sachlichen Deutungen reichen von einem Jagdschloss bis hin zu einer Festung zur Aufbewahrung des Staatsschatzes. Das Portal birgt weitere Rätsel: Es wurde als Ableitung vom sternförmigen Fünfeck und seiner Zerlegung durch die Zahl 1,618 gedeutet, deren Ziel jene göttliche Proportion ist, die sich ebenso im menschlichen Körper wiederfinden soll.
Kaum wie in einem anderen Ort in Apulien treffen sich hier Geschichte und Spekulation, Mythen und Legenden. Im Kern der imaginären Vorstellungen steht die faszinierende Figur des Bauherren, dem Stauferkaiser Friedrich II. Dabei ist – wie wir staunend in einer Beschreibung lesen – ein Aufenthalt des Lebenskünstlers an diesem geheimnisvollen Ort nicht einmal eindeutig belegt. Denn es handelte sich um ein Herrscher ohne Hauptstadt und Residenz für sich selbst und seinen wandernden Hof.
Das Riesenreich hielt Friedrich II zeitlebens in Bewegung. Beweglich war auch sein Geist, offen für alle Erkenntnisse der Wissenschaft, der Philosophie zugewandt und die Essenzen verschiedener Kulturen zusammenfügend. Dieser Habitus inspiriert Reisende aus der ganzen Welt.
Es ist naheliegend, dass wir an unseren Besuch in Montagnalo, den Wohnort von Hermann Hesse erinnern. In seinem Glasperlenspiel entwirft der Schriftsteller, unter dem Eindruck des 2. Weltkrieges, eine Vision einer pädagogischen Provinz mit dem fiktiven Namen Kastalien. Im Buch lesen wir über das zentrale Leitmotiv: „Das Glasperlenspiel ist ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur, es spielt mit ihnen, wie etwa in den Blütezeiten der Künste ein Maler mit seiner Palette gespielt haben mag.“
Wichtige Teile dieser Bildung, mit ihrem interdisziplinären Ansatz, sind ebenso die Mathematik und die Musik. Die Lebensgeschichte von Josef Knecht, der zum Meister des Spiels wird, zeigt, dass das harmonische Zusammenspiel von Kulturen, Wissenschaften und Religionen keine Utopie sein muss. Eine der Maximen des Protagonisten lautet dabei wie folgt: „Wir sollen nicht aus der Vita Aktiva in die Vita Kontemplativa fliehen, noch umgekehrt, sondern zwischen beiden wechselnd unterwegs sein, in beiden zu Hause sein, an beiden teilhaben.“
Elf Jahre lang schrieb Hesse an seinem letzten großen Werk. Über die Reaktionen war er eher enttäuscht, insbesondere bemängelte er, dass das Glasperlenspiel langsam zum Inbegriff für ein weltfremdes Leben im Elfenbeinturm wurde. Der Nobelpreisträger sah darin – wie Alois Prinz berichtet – ein grobes Missverständnis. Nach wie vor aktuell ist das Ideal einer ganzheitlichen, dem Menschen dienenden Wissenschaft.
Wir wissen nicht, ob Hesse sich mit dem Leben Friedrich II jemals beschäftigt hat. Aber uns gefällt der Gedanke, in dieser Figur ein historisches Vorbild dieser Ideenwelt, einen „Glasperlenspieler“ zu sehen.
Literatur:
Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel, Suhrkamp, 2023
Alois Prinz, „Und jedem Anfang Wohn ein Zauber inne“ – die Lebensgeschichte des Hermann Hesse, Suhrkamp, 2020