Die Freiheit des Träumers

Inmitten des Bieler Sees treibt ein Ruderboot. Ein Mann liegt bewegungslos auf dem Rücken und blickt in den blauen Himmel. Hinter der idyllischen Szene, wir sind im Jahr 1765, verbirgt sich ein philosophisches Ereignis. Der einsame Ruderer ist weltberühmt. Jean Jacques Rousseau (1712-1768) ist ein Multitalent, Denker, Schriftsteller und Komponist.

Seine Hauptwerke, der Briefroman La nouvelle Héloise (1761), das verfassungsrechtliche Traktat Du contrat social (1762) und im selben Jahr, die romanhafte pädagogische Lehrschrift Émile, lassen ihn zu einer umstrittenen Figur werden. Rousseau prangert die herrschenden Verhältnisse des Absolutismus an, begründet die Rechte des Bürgers und lehnt die Offenbarungsreligionen ab. Seine Bücher lösen Skandale aus und zwingen ihn zu einem Leben auf der Flucht.

„Zurück zur Natur“ lautet heute eine Formel, die wir mit dem Philosophen in Verbindung bringen, eine Maxime, die uns dazu auffordert, sich wieder an den natürlichen Lebensgrundlagen zu orientieren. Der ursprüngliche, von Natur aus gute Mensch, lebt in der Einheit mit der Umwelt, lehrt der Denker. Das Zitat wird ihm fälschlicherweise zugeschrieben. Rousseau weiß, dass es weder möglich ist, die Zivilisationsentscheidung rückgängig zu machen, noch die Aufklärung aufzuhalten. Er bleibt aber sein Leben lang skeptisch gegenüber der Fortschrittsgläubigkeit, die aus dem Siegeszug der Wissenschaft und Technologie hervorgeht.

Seine geistigen Kämpfe fordern ihren Tribut. Das Leben Rousseaus wird zunehmend von Streit, Weltflucht und Einzelgängertum bestimmt. Es war die Paranoia, eine mit der Schizophrenie verwandte Form von Geisteskrankheit, es war der Verfolgungswahn, der Rousseau vor den Menschen fliehen und die Einsamkeit suchen ließ.

Zu einer wichtigen Station seines Lebens wird der knapp zweimonatige Aufenthalt auf der Petersinsel im Bieler See. Dort ist er ungestört, kein Reisebericht seiner Zeit erwähnt den Ort. Der Schriftsteller schreibt nicht, sondern verbringt die Tage in der Natur und betreibt intensiv seine Pflanzenforschungen. „Mann vergönnte mir kaum zwei Monate auf dieser Insel, ich aber hätte zwei Jahre, zwei Jahrhunderte, ja die ganze Ewigkeit dort verbracht, ohne mich einen Augenblick zu langweilen“ erinnert sich Rousseau später. Sein Buch „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, verfasst in seinen beiden letzten Lebensjahren, beschreibt den Ausflug mit dem Ruderboot:
„Bei stillen Wasser sprang ich in den Kahn und ruderte bis zur Mitte. Dort Strecke ich mich auf dem Boot aus, den Blick zum Himmel gerichtet und ließ mich von der Strömung treiben, nicht selten stundenlang und versank dabei in tausend, verworrene, aber herrliche Träumereien, die eigentlich keinen Gegenstand hatten und mir doch hundertmal süßer waren als alles, was man gemeinhin die Freuden des Lebens nennt.“

Die Ausflüge auf den See nutzt Rousseau immer wieder für diese Meditationen. Träumend kennt er kein Gestern und kein Morgen mehr und lebt in einer Gegenwart, die der Zeit enthoben ist, die währt, ohne dass die Dauer bewusst wird. Im Gegensatz zu den fernöstlichen Meditationsweisen geht es ihm nicht um Auslöschung seines Egos. Er findet vielmehr den Kern seiner Existenz. „Ich wollte dieser Augenblick währte ewig“ stellt Rousseau über diesen Bewusstseinszustand fest, ganz anders wie die berühmte Figur des Faust, die, im Werk Goethes, zur Ruhelosigkeit verdammt ist und nie ihr „Augenblick verweile“ finden wird.

Rousseau verknüpft, wie Peter Sloterdijk in seiner Berliner Rede zur Freiheit ausführt, die subjektive, stressfreie Erfahrung mit der Freiheit des Einzelnen. Kurz vor der Verwandlung der europäischen Gesellschaften durch den Rausch der technischen Revolution erkennt der Philosoph den Wert des Stillstandes. „Und wirklich gab ich mich während meiner Zeit auf der Insel einzig jener wonnevollen Beschäftigung hin, der nun einmal nachgehen muss, wer sich dem Nichtstun verschrieben hat.“

Der Philosoph wird so zum geistigen Vorläufer der Generationen von Aussteigern und Urlaubern, die sich von den gesellschaftlichen und ökonomischen Zwängen ihre Zeit verabschieden und im Nichts-Tun ihr eigentliches Glück finden. Rousseau beschreibt eine Daseinserfahrung, die kein Begehren mehr in ihrem Zentrum hat:
„Angenommen aber, unsere Seele erreichte eine solide Ruhelage, in der sie, ihr gesamtes Wesen konzentrierend, ganz zu sich käme. Dann müsste sie Vergangenheit und Zukunft gar nicht bemühen, denn dauern wäre Gegenwart, ohne dass sich diese Dauer freilich bemerkbar machte, ohne dass irgendwo sich ein Vorher oder Nachher abzeichnete und ohne dass Gefühle entstünden wie Entbehrung oder Genuss, Freude oder Kummer, Verlangen oder Furcht.“

Rousseau stellt mit diesen Gedankengängen das bisher gewohnte Weltbild auf den Kopf. Das Glück und den Sinn des Daseins löst er von der christlichen Metaphysik ab. „Solange dieser Zustand währt, sind wir, wie Gott, uns selbst genug.“ Selbstfindung wird eine der entscheidenden Motivationen des modernen Menschen.

Wie steht es heute mit der Freiheit des Träumers? Zweifellos sind noch immer viele Zeitgenossen auf der Suche nach individueller Erfahrung, Glück und Zufriedenheit. Der Trend zum Reisen mit dem Wohnmobil und die damit verbundenen Träumereien weisen darauf hin. Allerdings hat, wie Sloterdijk in seiner Rede ausführt, von jeher der Freiheitsdrang des Einzelnen seine Grenzen in den objektiven Bedingungen, die die Gesellschaft real hervorbringt, vorgefunden. Kurzum, das Träumen wird schwieriger. In Zeiten der Klima- und Gesundheitskrise steht nicht nur der alte Begriff der Reisefreiheit zur Disposition.

Literatur:

Christiane Landgrebe, Zurück zur Natur, Das wilde Leben des Jean-Jacques Rousseau, Beltz Verlag

Jean-Jacques Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, Reclam