Die Kraft des Imaginären

„Kultureller Gedächtnisort“ – der Sinn dieses Begriffes erschließt sich bei einem Besuch in Ankershagen und dem Heinrich-Schliemann-Museum von selbst. Der Platz rund um das Pfarrhaus und die nahe gelegene alte Dorfkirche, im Hintergrund das hölzerne „trojanische“ Pferd“, lädt nicht nur zum Verweilen, sondern auch zum Träumen ein. Wir trinken zunächst einen Kaffee unter einem großen Baum, inmitten des Kleinodes. Sah etwa der kleine Schliemann im 19. Jahrhundert diese Esche? Auf Nachfrage erfahren wir, dass dies durchaus möglich sei, aber nicht bewiesen werden könne. Das Spiel von „Dichtung und Wahrheit“ wird immer wieder in der Biographie des berühmten Mannes auftauchen.

Beim Rundgang durch das sehenswerte Museum wird schnell verständlich, warum Schliemann (1822-1890) zu einer der populärsten Figuren des 19. Jahrhunderts wurde. Ein Genie, zweifellos. Ein Mythos zudem. Ein Mann, der schon als Kind erstaunliche Absichten fasste und trotz aller Widrigkeiten zum Erfolg kommen wird. Aus ärmlichsten Verhältnissen kommend, schafft er nur den Abschluss an einer Realschule, wird kaufmännischer Lehrling, arbeitet später als Lagerarbeiter in Hamburg und versucht nach Venezuela auszuwandern. Nichts deutet auf eine erfolgreiche Laufbahn hin. Das Schiff für die Überfahrt geht unter und eine Odyssee nimmt ihren Lauf. Schliemann findet eine Anstellung in Amsterdam, wandert nach Russland aus, profitiert vom Goldgeschäft in den Vereinigten Staaten und wird ein reicher Mann. Die Sterne stehen endgültig günstig für ihn. Der geschäftliche Erfolg ermöglicht ihm, endlich seine eigentlichen Leidenschaften in den Mittelpunkt seines Lebens zu rücken: das Reisen und die Altertumsforschung. 1866 nimmt er sein Studium der Archäologie in Paris auf. Er lernt über die Jahre 20 Sprachen, manche davon in nur sechs Wochen. 1868 unternimmt er die ersten Expeditionen auf den Spuren Homers.
Die Entdeckung von Troja und des Schatzes von Priamos, unter teilweise nicht vollständig geklärten Umständen, begründen seinen Weltruhm. Das abenteuerliche Leben endet in Neapel, begraben wird er in Athen. Die Stadt war, nach seiner 2. Hochzeit mit einer griechischen Frau, seit 1871 seine Wahlheimat.

Nach unserem Rundgang sitzen wir wieder unter der Esche und blättern in der Selbstbiographie des Kosmopoliten. Im ersten Kapitel erklärt er seine Prägung durch die Kindheit in Ankershagen. „In diesem Dorf verbrachte ich die acht folgenden Jahre meines Lebens“, erzählt er über die Zeit nach der Versetzung des Vaters an die Pfarrei. Er setzt fort: „Die in meiner Natur begründete Neigung für alles Geheimnisvolle und Wunderbare, wurde durch die Wunder, welche jener Ort enthielt, zu einer wahren Leidenschaft entflammt.“

Schliemann studiert die Geschichte, Sagen und Mythen in der Provinz und diskutiert über die Existenz des klassischen Troja. Die Entdeckung des Ortes kündigt er nach diesem Bericht im Alter von acht Jahren an. Die Geldverlegenheiten des Vaters in dieser Zeit wundern ihn, er versteht nicht, warum dieser nicht einen der Schätze der Umgebung ausgräbt.

Wer sich für das Leben dieses Reisenden interessiert, kommt an dem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern nicht vorbei. Man entdeckt dort nicht nur die Wurzeln Schliemanns, sondern am Horizont erscheinen den Besuchern gleichzeitig neue Reiseziele: die Türkei und Griechenland. Die Kraft des Imaginären, sie wirkt.

Leseempfehlungen:

Leuchtfeuer, 20 kulturelle Gedächtnisorte, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, 2009

Heinrich Schliemann, Selbstbiographie, Tredition Classics, Nachdruck der Ausgabe von 1891