Samstag, regnerischer Tag. Fahrt nach Sassnitz. Im alten Dorfkern wollen wir den kleinen Buchladen besuchen, der dem Thema „Inseln“ gewidmet ist. Eine Fundgrube für außergewöhnliche Reiseliteratur. Leider stehen wir vor einer verschlossenen Tür: Ferien. An der Strandpromenade trösten wir uns mit Café und einem Stück Sanddorn-Torte. Wir schweigen, sitzen am Fenster und kucken auf die unbesetzte Bank mit Aussicht auf das Meer. Nur wenige Passanten trotzen dem Nieselregen.
Der Spaziergang führt uns an der Promenade entlang, auf einen kleinen Waldweg, zum Strand. Wir wandern an Findlingen vorbei, das Geröll knirscht unter den Füßen, klettern über einen gefallenen Baum, der die enge Passage versperrt. Wir treten in einen Raum ein, der an die Erdgeschichte erinnert und vom Kampf des Meeres gegen das Land geprägt ist. Ein Wald scheint langsam in Richtung Abgrund geschoben zu werden. Unter der Bruchlinie tauschen die Kreidefelsen auf. Die Kreide entstand zu Lebzeiten der Dinosaurier, vor etwa 70 bis 100 Millionen Jahren.
Einzelne Spaziergänger, die in der Ferne zu sehen sind, wirken winzig unter den Abhängen. Das Meer und der Himmel am Horizont wird durch eine farbliche Nuance unterschieden. Grautöne, die am Berührungspunkt durch eine hell angedeutete Linie verbunden sind.
Seit 1840 wird in der Region Kreide abgebaut. Im gleichen Jahr starb der Maler Caspar David Friedrich.
Sein Bild „Kreidefelsen auf Rügen“, ein 1818 entstandenes Gemälde, hat viele Reisende angeregt, diese Landschaft zu besuchen. Auf der Darstellung sind eine Frau, ein am Abgrund liegender und ein die Ferne blickender Mann zu sehen. Das Werk wirkt idyllisch und trägt bis heute zu dem Mythos Rügen bei. Die Insel war für Friedrich raue und unberührte Natur, Ort der Inspiration, der Kraftschöpfung und Heilung. Seine Kunst verbindet Wahrnehmung und Erfahrung: „Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern was er in sich sieht.“
Eine andere Stimmung des Künstlers offenbart ein Aquarell mit dem gleichen Titel aus dem Jahr 1825. Das Bild zeigt den denselben Meerausblick, es sind aber keine Personen darauf zu sehen. Es wird spekuliert, dass der Maler zu dieser Zeit einsam war. Die düstere Atmosphäre wird durch verkümmerte Bäume und in trostlosem Grau gehaltene Felsen erzeugt. Die Darstellung einer „Natur ohne Menschen“ lässt an die Apokalypse und die aktuellen Debatten denken.
Wir unterhalten uns über ein Buch von Thomas Fasbender, das den Titel „das unheimliche Jahrhundert“ trägt. Der Autor entwirft eine pessimistische Sicht auf den Klimawandel, der seiner Meinung nach nicht mehr aufzuhalten ist. Dennoch wäre es für ihn fatal, dem Geschehen passiv und ohne gesellschaftliche Gegenmaßnahmen zu begegnen. Er erinnert nur daran, dass wir Menschen in größeren Zusammenhängen leben, nicht jede Krise technologisch gelöst wird. Er zitiert Ernst Jünger mit der Einsicht, dass wir nicht Zeugen einer politischen, sondern einer geo-physischen Revolution werden. Da die Folgen dieser Metamorphose, schon bei einer verhältnismäßigen geringen Erderwärmung, unseren Alltag verändern wird, rät der Philosoph, der neuen Lage mit einer moralischen Haltung zu begegnen. Sonst gilt die alte Weisheit: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
So sitzen wir unter den Kreidefelsen und schauen auf die See. Es regnet leicht, die Wellen schlagen in langsamen Takt auf, die Konturen der Umgebung vor uns sind verschwommen. „Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit“ schrieb einst Thomas Mann. So weit die Erinnerung. Zuhause lesen wir nochmals nach, ob das Zitat vollständig ist. Und tatsächlich, es ist unvollständig. Es lautet: „Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit, des Nichts und des Todes, ein metaphysischer Traum.“
Wie man das Wort Mann`s hört ? Es ist eine Frage der Stimmung.
Literatur:
Thomas Fasbender, das unheimliche Jahrhundert, Landtverlag 2022
Reinhard Piechocki, Romantiker auf Rügen, Putbus 2015