„Reisen ist die Sehnsucht nach Leben“ schrieb einst der Schriftsteller Kurt Tucholsky. In modernen Zeiten bewegen sich Millionen Menschen mit unterschiedlichen Motivationen in Richtung ihrer Sehnsuchtsorte. Sie erwarten Erholung, Abenteuer, Veränderung, sehnen sich nach neuen Perspektiven oder erweitern ihr Wissen. Für die Einen ist es die Flucht aus dem Alltag, Freizeit, Spaß, für Andere der Versuch ihr eigenes Bewusstsein zu vertiefen, Sinn und Erfüllung anzustreben.
Die moderne Reiseindustrie ist heute wichtiger Teil der globalen Wirtschaft. Philosophischen Fragen, die mit dem Reisen verknüpft sind, führen zurück in die Ursprünge des Tourismus, die im 19. Jahrhundert erscheinen. Der Engländer Alain de Botton beschreibt die Möglichkeiten der inneren und äußeren Erfahrung in seinem lesenswerten Buch: „Die Kunst des Reisens“ (2002).
Am 5. Juli 1841 organisierte der Engländer Thomas Cook eine Eisenbahnreise von 570 Aktivisten seiner Abstinenzbewegung von Leicester ins 10 Meilen nördlich gelegene Loughborough. Diese Reise markierte den Beginn des kommerziellen Massentourismus. 1869 führte Cook die erste Pauschalreise durch. Er leitete selbst die Unternehmung mit britischen und amerikanischen Teilnehmern nach Ägypten. Neue Bewertungen, die aus der Welt des Kapitalismus stammen, wie das berühmte „Preis-Leistungsverhältnis“ begleiten den Vorgang.
Die neuen Praktiken kommentierte der Maler John Ruskin mit einer gewissen Skepsis. „Eine Fahrt mit der Eisenbahn kann ich beim besten Willen nicht als Reise bezeichnen. Man wird ja lediglich von einem Ort zum anderen befördert und unterscheidet sich damit nur sehr wenig von einem Paket“ schrieb er damals. Damit formulierte er einen Einwand, gegen die Hast und Geschwindigkeit des modernen Tourismus, der bis heute seine Berechtigung hat.
Ruskin empfahl seinen Schülern – unabhängig von ihrem Talent – das Zeichnen und Schreiben, Übungen um sich gegen den Erkenntnisverlust, der sich im Rausch der Erlebnisse verbirgt, zu wappnen. „Es tut einer Kugel nicht gut, wenn sie sich schnell fortbewegt, und es schadet einem Menschen nicht, wenn er wirklich ein Mensch ist, sich langsam fortzubewegen, denn nicht die Bewegung zeichnet ihn aus, sondern das Sein.“
In diesem Kontext wurde eine alte Kontroverse wiederbelebt. Die Frage: Führt das Reisen in ein höheres Bewusstsein oder nicht? „Das ganze Unglück der Menschen rührt aus einem einzigen Umstand her, nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können“ hielt der christliche Philosoph Blaise Pascal, lange vor der Erfindung des Tourismus, in seinen Gedanken fest. Im Jahr 1790 war es der Adlige Xavier de Maistre, der zu einem Hausarrest verurteilt wurde und seine berühmte „Zimmerreise“ verfasste. Um der Langeweile zu entgehen, erklärte er seine verschlossene Kammer zu einer Welt, erforschte die Geschichte der Gegenstände darin, lies seine Gedanken in die Ferne schweifen und eroberte so einen Kontinent der Imagination. Trotz seiner eingeschränkten Freiheit muss man sich diesen Mann als einen glücklichen Menschen vorstellen. Sein Buch wurde ein Bestseller.
Alain de Botton bedenkt die philosophischen Probleme, die das Reisen aufwirft, das heißt Fragen, die über das Praktische hinausgehende Überlegungen erfordern. Seine Grundeinsicht: Es ist nicht die Bewegung alleine, die uns zu einem höheren Bewusstsein führt! „Wir erleben Menschen, die auf Eisschollen getrieben sind, die Wüsten durchquert und sich den Dschungel hindurchgekämpft haben – und in deren Seele wir vergeblich nach Spuren ihrer Erlebnisse suchen.“
Der Roman „Gegen den Strich“ (1884) von Joris-Karl Huysman führt tiefer in das Paradox. Ein Adliger, Duc Des Esseintes, ist inspiriert von den Werken Charles Dickens und träumt von einer Englandreise. Als er sich auf den Weg macht und mit den typischen, logistischen Schwierigkeiten der Unternehmung konfrontiert wird, bricht er das Vorhaben schnell ab. Seine Einsicht: „Wozu sich von der Stelle rühren, wenn man so herrlich auf einem Stuhl reisen kann?“
Ähnlich verhält es sich mit der Hollandliebe des Adligen. Er hat einen intensiveren Kontakt zu den Dingen, die er an der holländischen Kultur liebte – bei der Betrachtung ausgewählter Darstellungen der Sehnsuchtsorte in einem Museum. Eine Nähe zu den Phänomenen, die er vermisste, wenn er mit 16 Gepäckstücken und zwei Dienern das Land selbst bereiste.
Alain de Botton fasst die merkwürdigen Erlebnisse dieser Romangestalt zusammen. „Wir sind offenbar am ehesten irgendwo ganz da, wenn uns erspart bleibt, außerdem leibhaftig an diesem Ort anwesend zu sein.“ Natürlich ist das nicht als ein Plädoyer zu verstehen überhaupt nicht zu reisen, eher geht es darum, sich zu erinnern, dass die Erfahrung des Seins überall und an jedem Ort möglich ist. Für den Philosophen Karl Jaspers steht das Dasein, ob in Bewegung oder nicht, in Zusammenhang mit der Sinnerfüllung im Leben. „Im Dasein ist nur die Wahl zwischen spannungslosem Versinken der Existenz und spannungsreicher, nie endgültiger Verwirklichung der Existenz in Subjektivität und Objektivität“. Egal wo unsere Reise beginnt oder hinführt, sie berührt die offenen Fragen nach dem Sinn des Lebens.
Natürlich gibt es für Alain de Botton sinnvolle Gründe, sich auf den Weg zu machen. Wichtig ist, für ihn nur zu verstehen – viele unglückliche Reisende werden ihm zustimmen -, dass wir unsere gewohnten Zustände, nicht wie Kleidungsstücke ablegen. Auf einer Traumreise nach Barbados, die er mit einer Freundin unternimmt, stellt er nüchtern fest: „Und ich hatte noch etwas mitgenommen, das meine Wahrnehmung zu trüben gefährdete: mein gesamtes seelisches Ich, nicht bloß die hedonistischen, auf das Schöne gerichtete Anteile, sondern auch die Bereiche, die zur Ängstlichkeit, Gelangweiltsein und Sorge um meine finanzielle Lage neigten.“ Wer kennt dieses Gefühl nicht, die Unfähigkeit im Moment zu sein und stattdessen von den Ängsten und Ungewissheiten der Zukunft belastet zu sein?
Das Reisen öffnet Tore in eine Welt, die wir nur schwerlich zu Hause erleben. Gründe für den Aufbruch können die Sehnsucht nach dem Exotischen oder unsere Wissbegierde sein. Wir begegnen unterwegs erhabenen Landschaften, unbekannten Menschen, Wüsten, Berge, Meere, lesen Beschreibungen von Malern und Schriftstellern, die helfen unsere Augen für die unergründlichen Tiefen des Momentes zu öffnen. Wer bestätigt, dass die Welt wunderbar im Ganzen ist, wer preist die Schöpfung in ihrer Ganzheitlichkeit, ohne die Kontinente bereist zu haben?
Wahre Abenteuer verändern, führen zu Metamorphosen und lassen uns bisher unbekannte Harmonien und Disharmonien unseres Seelenlebens entdecken.
Es ist ein Bericht des Schriftstellers Gustave Flaubert, der in eine andere, noch immer aktuelle, politische Dimension des Reisens einführt. „Doch meine größte Leidenschaft gilt dem Kamel, nicht ist so anmutig wie dieses melancholische Tier“ liest man, ein wenig überrascht in den Tagebüchern des Franzosen. Inmitten der Kolonialzeit reiste er neun Monate lang nach Ägypten und entdeckt dort vieles, was er in Frankreich vermisst. „Die Verachtung die er für sein Heimatland und dessen Bevölkerung empfand, war so tief, dass sie einem Status als Bürger spottete“ kommentiert Alain de Botton. Jeden Tag beschäftigt Flaubert für 4 Stunden einen Lehrer, um die Religion, Sitten und Gebräuche des Landes besser zu verstehen. Und er kommt zu einem Schluss, der sich fundamental gegen die moderne Identitätspolitik wendet. Der Schriftsteller sprach sich dafür aus, die nationale Zugehörigkeit eines Menschen neu zu bestimmen: nicht in Bezug zu dem Land seiner Geburt oder familiären Abstammung, sondern nach den Orten, zu denen sich der Betreffende hingezogen fühlt.
Flaubert: „Was die Vorstellung eines Vaterlandes angeht, das heißt, eines bestimmten Stückchens Erde, in eine Karte eingetragen und von anderen durch rote oder blaue Linien getrennt, nein, das Vaterland ist für mich Land, das ich liebe, das Land, von dem ich träume, das Land wo ich mich wohl fühle. Ich bin ebenso Chinese wie Franzose und ich freue mich nicht ein bisschen über unsere Siege über die Araber, weil mich ihr Schicksal traurig macht.“
Diese Bewusstseinsstufe, die für eine Erfahrung der Einheit allen Lebens offen ist, beschreibt Johann Wolfgang von Goethe mit den Worten: „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Bewusstsein eigener Gesinnungen und Gedanken, das Erkennen seiner selbst, welches ihm die Einleitung gibt, auch fremde Gemütsarten innig zu erkennen.“ Selbstbewusstsein, in diesem Sinne und Angst vor den Anderen schließen sich aus.
Ohne das höhere Bewusstsein entleeren sich alle Rituale des Reisens zu sinnlosen Übungen.
Literatur:
Alain de Botton, Die Kunst des Reisens, Fischer Verlag, Frankfurt 2002