Haben Sie schon einmal den Film „Genius – Die tausend Seiten einer Freundschaft“ mit Jude Law, Colin Firth und Nicole Kidman gesehen? Das sehenswerte Werk (2016) beschreibt die Beziehung zwischen dem Lektor Max Perkins und dessen großer Entdeckung Thomas Wolfe. Ende der 20er Jahre stellt sich der unbekannte Schriftsteller vor und bittet um die Veröffentlichung eines 1000-Seiten-Manuskriptes, für den bisher kein Verlag Interesse zeigte. Der junge Mann ist ein Vulkan, der Lavastrom seiner Worte und Eingebungen kaum zu kontrollieren. Der Lektor erkennt sofort das Genie des Autors und widmet sich monatelang dem titanischen Versuch, Ordnung in die Entwürfe zu bringen. Dabei streiten die Freunde oft tagelang um Formulierungen oder die Kürzung einzelner Passagen. Die Arbeit an Wolfes zweitem Roman „Von Zeit und Strom“ steht unter ähnlichen Vorzeichen. Perkins versucht, das Volumen des Buches zu begrenzen, sein Freund fügt unterdessen ständig neue Absätze hinzu. Beide Männer arbeiten bis zur völligen Erschöpfung.
Im Film sind die Erholungsreisen des Autors nach Europa nur angedeutet. Wir lesen, um mehr zu erfahren, das Reisebuch „eine Deutschlandreise“, das von seinen Besuchen in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts berichtet. Sechs mal hat der Schriftsteller Deutschland besucht, ein Abenteuer, das ihn begeistert. Er entdeckt, reist, erneuert sich und saugt alles in sich auf, verarbeitet seine Eindrücke in Texten, Notizen und Tagebucheinträgen.
Den Leser nimmt er mit in deutsche Städte, die er, vor dem Inferno des 2. Weltkrieges, unzerstört antrifft und ihre Schönheit bewundert. In Frankfurt, Berlin und München besucht er zahlreiche Buchhandlungen, fertigt Listen der Schriftsteller an und versucht zu verstehen, was die Bevölkerung liest: „Ich bleibe immer stundenlang vor Buchauslagen stehen und bestaune die Bücher, bis ich buchstäblich der Meinung bin, die Namen aller Druckerzeugnisse hätten sich in mein Gedächtnis eingegraben.“
Die obligatorische Reise auf dem Strom der Deutschen erfährt er in für ihn typischer Ambivalenz: „Doch was den Rhein so wundervoll macht, sind die Zeugnisse aus Jahrhunderten, die er mitführt, und all die reiche Kultur, von der er durchdrungen ist“. Den Massentourismus dagegen empfindet er von seiner fragwürdigen Seite: „Ich werde die langen weißen Kähne voll großer, fetter Fresser und Säufer, die durch das Glas hinausspähen ins magische Licht- und Schattenspiel, wo man sich so fremd fühlt wie in einem Albtraum, nie vergessen.“
In einem Bus in Frankfurt ereignet sich eine amüsante Episode. Zufällig trifft er den Jahrhundertschriftsteller James Joyce und setzt sich neben ihm. Auf der Fahrt sitzen die wortgewaltigen Künstler schweigend nebeneinander. Sie besuchen das Goethehaus, man ist höflich, nach dem Rundgang sagt Joyce zu seinem Kollegen: „Ein schönes altes Haus.“ Vielleicht hätte man mehr miteinander unternehmen sollen, notiert Wolfe später über die Begegnung.
Auf seinen Reisen sucht er nach dem wahren Deutschland. In München besucht der das Oktoberfest, empfindet das Land machtvoll und imposant, aber auch als rätselhaft. „Da ist einerseits diese rohe, bierselige Menge, und andererseits frage ich mich, ob es in irgendeinem anderen europäische Volk mehr Geistesgröße gibt als in diesem. Diese bierseligen Leute brachten Beethoven und Goethe hervor, den größten Geist der Neuzeit“. Auf dem Fest wird er später, schwer betrunken, in eine Schlägerei verwickelt, lässt sich beinahe zu einem Tötungsdelikt hinreißen und wird verwundet. So begegnet er seinem eigenen Abgrund und verfasst eine längere Erzählung über das Oktoberfest.
1935 besucht er Weimar, die Stadt, die für ihn „nach allem Anschein nach so viel vom Geist des großartigen Deutschland in sich trägt und von dem noblen und großartigen Geist der Freiheit“. Sein Besuch im Goethehaus hinterlässt tiefe Spuren und deutet auf die Verbundenheit mit dem deutschen Dichter: „Sein Leben erstand für mich so deutlich und lebhaft durch diese alten abgetragenen Dinge, mit denen er gelebt hat, die er gebrauchte – sein großer Geist schien mir gegenwärtig, lebendig in diesem Haus zu sein, es vollständig zu bewohnen, umherzugehen, immer in meiner Nähe zu sein.“
Wir schätzen diese Passage, die unserer eigenen Erfahrung entspricht.
1936 wird er zum letzten Mal in Deutschland sein. Er beobachtet die Olympischen Spiele in Berlin, eine Stadt, die er liebt, wegen seiner Parks und seinem gesellschaftlichen Leben. Die Veränderungen in der Hauptstadt, inmitten der Selbstinszenierung der Nationalsozialisten, entgehen ihm nicht. Die Menschen haben Angst, der Terror ist spürbar, zum Beispiel, wenn er nach dem Schicksal jüdischer Freunde frägt und keine Antwort erhält. Die deutschen Städte, die Wolfe so geliebt hat, werden bald unter Schutt und Asche liegen.
Literatur:
Thomas Wolfe, Eine Deutschlandreise, Manesse Verlag, 2020