„Eine alte Stadt, genau in der Mitte zwischen Avignon und den Cevennen. (…) Man sieht sie von weitem schon. Mit ihren mächtigen alten Türmen sieht sie genauso aus, wie ich mir als Kind Jerusalem vorgestellt habe. Durch die Stadt oder an ihrem Rand entlang oder ganz in der Nähe vorbei.“ (Peter Kurzeck)
Wir erinnern uns an einen heißen Tag, an unseren Aufenthalt im Juli in Uzès. Wir waren diesen Sommer zum ersten Mal in dieser Stadt und sie hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen, so sehr, dass wir uns eine baldige Rückkehr vorstellen können. Die Kulisse, einmalig. Drei Türme überragen das Ensemble und symbolisieren die drei in Uzès bis zur französischen Revolution herrschenden Mächte: Herzoge, Könige und Bischöfe. Die Handelsstadt, ausweislich seiner prächtigen Bürgerhäuser, erlebte im 17. und 18. Jahrhundert beachtlichen Wohlstand, wurde im 19. Jahrhundert ausgebaut, verarmte gleichzeitig und fiel in eine Art Dornröschenschlaf, aus dem es erst nach dem Zweiten Weltkrieg erwachte.
Der französische Schriftsteller Andrè Gide, dessen Familie zum Teil aus der Region stammt, schreibt in seiner Autobiographie „Stirb und Werde“: „Die fortschreitende Zeit schien die kleine Stadt vergessen zu haben; sie lag abseits und merkte es nicht.“
Heute tummeln sich die Touristen in den Gassen der Altstadt, besuchen die Museen, die historische Bauwerke, den mittelalterlichen Kräutergarten und an den Markttagen den pulsierenden „Place aux Herbes“. Unter dem Schatten der Platanen herrscht eine einmalige Atmosphäre, die sich aus dem Stimmengewirr, den Farben und Gerüche und den Einheimischen und Gästen bildet. Die HändlerInnen der Region bieten ihre kulinarischen Köstlichkeiten an und runden das Bild ab, das als „die Provence“ sich im Gedächtnis festsetzt. Erholung von dem bunten Treiben findet man in den Cafés an den Boulevards, einer Ringstraße, die den inneren Bezirk in einem großen Kreis eingrenzt.
Die Stadt lebt von ihrer Geschichte und den Geschichtenerzählern, den Poeten, Künstlern und Schriftstellern, die immer wieder neu über das Erbe der Region und die Faszination der Provence berichten. Jährlich findet in Uzès ein viel beachtetes Literaturfestival statt.
Im alten Bischofspalast, im Museum „Georges Borias“, sind zahlreiche historische Bilder, Stadtpläne, archäologische Fundstücke und Stoffe in einem bunten Sammelsurium versammelt. Die Ausstellungsstücke mahnen uns, dass wir länger bleiben müssten, um die Vergangenheit dieses Ortes zu verstehen. Im vorletzten Raum schritten wir über einen knarrenden Dielenboden, die dort präsentierte Keramiksammlung klirrte dabei bedenklich in den Vitrinen und so erreicht man schließlich den Gedenksaal für den Nobelpreisträger von 1947: Andrè Gide.
Zum Abschluss unseres Rundganges interessierte uns, ob wir Spuren des deutschen Schriftstellers Peter Kurzeck vorfinden, der lange Jahre zwischen Frankfurt und der Provence hin und her pendelte. Auf der Touristen-Information schüttelte man den Kopf. Der Frankfurter ist hier ein Unbekannter, seine ehemalige Wohnung am Marktplatz , in einem Haus, das schon Andre Gide bewohnte, kennen nur wenige Eingeweihte. Kurzum, der Dichter ist in Vergessenheit geraten. Die geplante Erzählung über seine Wahlheimat in der Provence konnte der 2013 verstorbene Kurzeck leider nicht mehr schreiben.
Zurück in Deutschland besorgen wir uns ein anderes Buch des genialen Sonderlings: Der vorige Sommer und der Sommer davor. Das Werk ist ein Reisebuch, oder auch nicht. Wer etwa genauere Beschreibungen von Sehenswürdigkeiten erwartet wird enttäuscht. Der Leser oder die Leserin nimmt vielmehr an einem gewaltigen Erinnerungsstrom Kurzecks teil, der sich auf drei Zeitebenen an seine Reise mit Frau und Kind nach Südfrankreich, an ein befreundetes Paar und einen Sommer in Frankfurt erinnert.
Der Erzähler berichtet über seine Anfänge als Schriftsteller und schildert mit unendlich vielen Details, kurzen Szenen und Gedankenfetzen den Alltag dieser Jahre. „Man kommt nicht zur Besinnung. Oder man kommt zur Besinnung und sonst zu nichts mehr. schreibt er in einem seiner typischen Sätze. Für Kurzeck ist das Schreiben selbst zu einer Reise geworden. „Und zwar zu einer viel überwältigenderen Reise, zu einer Entdeckung, jedes Mal neu“.
Die kleinen Dinge, die Besorgungen, die Entwicklung seiner Tochter oder Begegnungen beim Trampen beschäftigen den Beobachter ununterbrochen. Dabei spielt es auf seiner Wanderschaft keine entscheidende Rolle, ob man gerade in Tauberbischofsheim, Arles oder Frankfurt ist. Es ist ein Rückblick auf einen Weg ohne Ankommen und der verzweifelte Versuch im Strom der Zeit den Moment festzuhalten.
Tausende Notizen und Stichwortsammlungen bildeten den gewaltigen Wortschatz, den Kurzeck für sein Vorhaben, ein Jahrhundert voller Erinnerungen zu erzählen, nutzt. Der radikale Biograph seines eigenen Bewusstseins schafft dabei eine Melodie der Sprache, die sich in ihrem Rhythmus um seine Suche nach der verlorenen Zeit und die melancholische Stimmung der Vergeblichkeit dreht.
„Nur, dass dauernd die Zeit vergeht! Heillos! Verheerend die Zeit!“
„Du spürst, wie die Zeit an dir zieht, immerfort an dir zieht. (…) Die Zeit wie ein Zug, mit den Bildern als Fracht.“
Literatur:
Andrè Gide, Stirb und Werde, dtv, 2001
Peter Kurzeck, Der vorige Sommer und der Sommer davor, Schöfling & Co., 2019
Peter Kurzeck, Der radikale Biograph, Hg Erika Schmied, Stroemfeld Verlag, 2013