Italien – im Gegenlicht

Das Land wo die Zitronen blühen – Reisen nach Italien sind seit zweihundertfünfzig Jahren der Selbsterfahrungstrip der Deutschen. Nicht wenige folgen in ihrer Reiseplanung bis heute dem Vorbild der italienischen Reise von Johann Wolfgang von Goethe.

Wir lesen, in der kalten Jahreszeit, ein dieser Kulturgeschichte gewidmetes Buch von Golo Maurer: „Heimreise – die Suche der Deutschen nach sich selbst.“ Im Verlauf des 19. Jahrhunderts bildet sich heraus, „was man als dreifache Wurzel einer spezifisch deutschen Identität als kulturelle – und zunehmend auch politische – Nation bezeichnen könnte: Man liebte Italien, identifizierte sich mit Goethe und fühlte sich deutsch.“

Goethes Flucht aus Weimar war die Antwort auf seinen Burnout, den der Politiker angesichts seines zeitraubenden, öffentlichen Engagements erlitt. Im Süden reiste er unter falschen Namen, arbeitete jeden Tag an seinen künstlerischen Talenten. In Rom suchte er die Antike, in Palermo die Urpflanze. Nach der Rückkehr in den Norden beklagte der Reisende die „mangelnde Teilnahme“ seiner Landsleute an seinen Erfahrungen. Goethe, ein unverstandenes, einsames Genie. Am Lebensende diktierte er Eckermann: „Ja, ich kann sagen, dass ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei.“

Die Erfahrungen des Dichters in seinem Land der Träume provozierten immer wieder Kritik. „Alle Dinge auf seiner Reise“ schrieb der Literaturhistoriker Adolf Stahr, „sind nur zur Förderung seiner schönen, persönlichen Zwecke da.“ Zu wenig, so liest man an verschiedenen Stellen, sei der Dichter an den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Lage der Bevölkerung interessiert gewesen.

Maurer beschreibt viele Deutsche, die über die Jahrhunderte aus dem Land erzählten. Die wiederkehrenden Fragen dabei sind: Was ist aus dem Sehnsuchtsort geworden? Bilden wir uns Italien nur ein?

Eine Antwort präsentiert Joachim Fest, der das Land in den 1970er und 1980er Jahren bereiste. Der Historiker, der sich Jahrzehnte mit den Abgründen der deutschen Geschichte beschäftigte, zog es immer wieder weg von den „Fatigues du Nord.“

Zufällig finden wir die Beschreibung seiner italienischen Reise – „im Gegenlicht“ – in einem antiquarischen Buchladen. Und wir sind beim Lesen begeistert.

Sein Reisebuch ist in vielerlei Hinsicht ein Gegenentwurf zur Reise Goethes. Seine Tour führt ihn zunächst nach Sizilien, dann reist er in die Hauptstadt: Rom. Und: Auf dem Weg trifft er Passanten, Künstler, und Wissenschaftler, mit denen er gemeinsam herauszufinden versucht, was die Sizilianer und Italiener ausmacht. Dabei inspiriert ihn weder das „Italienbild aus der Oper“ noch tote Steine am Wegesrand. Fest zitiert nicht zufällig einen seiner Gesprächspartner, der beklagt, dass ihn die „ewige Rührung vor der Geschichte“, die viele Touristen treibt, nervt.

Die italienische Reise ist eine Suche nach der verlorenen Zeit, beschäftigt sich mit den Fragen der Erkenntnis und damit, welche Phänomene wir heute bezeugen. Auf Sizilien beobachtet Fest zwei Bauern auf ihren Eseln und schreibt: „Diese Bilder, dreitausend Jahre alt, ziehen sich jetzt aus der Welt zurück. Gedanke, zu den Letzten zu zählen, die sie sehen“.

Im Gegenlicht werden die Zerstörungen der Moderne deutlich. Der Autor wandert durch Betonburgen, besucht einst heilige Orte, die Industrieanlagen verdrängt haben. „Der Wirklichkeit entkommt keiner mehr“ notiert er dabei lakonisch.

Das Bonmot von Robert Louis Stevenson „Sightseeing is the art of disappointment“ versteht Fest nur allzu gut. Dennoch, immer wieder blitzt das Vergangene in der Gegenwart auf, zeigt sich der Zauber der Landschaft. Mithilfe der meisterhaften Sprache und der herausragenden Bildung, die den Autor in den auszeichnen, gelingt ihm ein Meisterwerk. Eine Einsicht nach der Lektüre: Über die Verluste in der Welt trösten Begegnungen hinweg. Hinter den Rollen den wirklichen Menschen zu entdecken und den Schein von der Realität zu trennen, liegt hier ein Sinn des Reisens?

Traum, Wirklichkeit und Illusion – das Italienbuch von Joachim Fest ist für uns eine Entdeckung.

Literatur:

Golo Maurer, Heimreise, Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst, Rowohlt Hamburg, 2021

Joachim Fest, eine italienische Reise, im Gegenlicht, Siedler Berlin, 1988