Müllphilosophie & Reisen

Wie bringt man die Themen Müll und Reisen in eine Verbindung? Für Oliver Schlaudt, Professor für Philosophie, ist das kein Widerspruch. Mit seinem faszinierenden Buch „Zugemüllt“ legt er einen ungewöhnlichen Reisebericht vor. Er führt uns zu den Wahrzeichen unserer Müllkultur, sei es eine Mülllandschaft in Bitterfeld, eine Sondermülldeponie auf einer künstlichen Rheininsel oder die weltgrößte Untertagedeponie in Hessen. Für Schlaudt ist dieses „Reisen keine Flucht mehr vor der selbstgeschaffenen Realität, sondern die volle Konfrontation mit ihr“. Er ruft zu neuem Entdeckermut auf. Die Begegnung mit den Landschaften des Anthropozäns wird uns die Einsicht abnötigen, dass es weder die Fremde noch eine unberührte Natur mehr gibt und wir uns von der Welt entfremdet haben.

Die sogenannte „Rubbish Theory“ sieht im Müll einen Teil unseres kulturellen Erbes. Das Phänomen ist abgründig: Zwischen 1900 und 2015 hat die Menschheit geschätzte 2 Billionen Tonnen Abfall produziert. Die Tempel der Müllmoderne (Cyrille Harpot), die auf dieser Reiseroute liegen, erinnern daran, dass erstmals in der Natur- und Kulturgeschichte Müll anfällt, der von der Biosphäre nicht mehr resorbiert werden kann. So entsteht ein „unheilbarer Riss“ und das Ende der Kreislaufwirtschaft.

Das Problem hat eine globale Dimension, wie die Plastikverschmutzung der Erde eindrücklich belegt. 100 Millionen Tonnen sind in den Ozeanen – der Zuwachs steigt jedes Jahr. Die Massen von Müll bilden zwischen Hawaii und der kalifornischen Küste den Great Pacific Garbage. Eine Fläche, die dreimal so groß wie Frankreich ist. Wir erinnern uns beim Lesen dieser Passage an ein Zitat von Reiner Kunze, das im Ozeaneum in Stralsund zu finden ist: „… Am Ende, ganz am Ende, wird das Meer in der Erinnerung blau sein.“

Überall sind die Zeichen dieses Erbes in die Landschaften eingeschrieben. „Die Entsorgung der menschlichen Abfälle, die in der modernisierten Welt (…) anfielen, war der eigentliche Sinn von Kolonialisierung und imperialistischer Eroberung“ argumentierte der Soziologe Zygmunt Bauman. Fakt ist, bis heute ist der Export von Müll ein dubioses Geschäft. Unser Wohlstandsmüll wurde über Jahrzehnte in Urlauber-Paradiese wie die Türkei, Malaysia oder Indonesien exportiert. Schnelllebige Modeartikel aus den USA und Europa, die keine Abnehmer gefunden haben, werden nach Südamerika verschifft und enden in der chilenischen Atacama-Wüste. In einer Reportage des NDR lesen wir über die Überproduktion des perversen Systems der Fast Fashion: „Was die Industrienationen nicht wollen, landet zu großen Teilen hier in der Freihandelszone Zofri: 59.000 Tonnen Kleidung pro Jahr“.

Zurück nach Deutschland, in die ehemaligen Kohlefördergebieten rund um Bitterfeld. Durch die Flutung der Krater, die durch den Kohle-Abbau in der Umgebung entstanden sind, entstehen künstliche Seen und damit neue Feriengebiete. Die Idylle ist etwas trügerisch. Man schätzt, dass unter der Stadt auf einer Fläche von 25 Quadratkilometern eine gigantische Menge hochgradig verseuchtes Grundwasser durch das Gestein strömt. Über Jahrzehnte – wie der SPIEGEL 1990 berichtete – wurden jährlich mehr als 70 Millionen Kubikmeter Abwasser (genug für einen Tankwagenzug, der von Hamburg bis Melbourne reicht) in der Gegend entsorgt. Das ehemalige Chemiekombinat lieferte den Müll seiner Reaktionsöfen und Rührmaschinen hier ab. Das Gift gelangte von der Mulde bis in die Elbe. In den Fischen des Wattenmeers sind Chemikalien aus Bitterfeld nachweisbar. Niemand kann genau sagen, welche Stoffe sich künftig im Untergrund bilden und wo diese unbekannten Substanzen einst wieder auftauchen werden. Ein System von Pumpen saugt verseuchtes Grundwasser ab, um die Kloake in Schach zu halten. Für – vermutlich – hunderte Jahre ist keine andere Lösung in Sicht.

In seiner Argumentation weist Oliver Schlaudt auf ein Paradox hin. Wir sind heute von den Idealen der Hygiene und Sterilität beherrscht. Allerdings erkaufen wir uns, wie der Umgang mit dem Müll zeigt, nur die Einbildung von Sauberkeit. „Der industrielle Dreck ermöglicht uns die Illusion von Reinheit, und diese lässt uns umgekehrt jenen übersehen.“ Der Philosoph kommt zu folgendem Schluss: „Im Licht dieser Analyse erscheint der Müll immer mehr als das gesellschaftlich Unbewusste, das kollektiv Verdrängte.“ Alles Verdrängte kommt eines Tages mit Gewalt zurück.

Das Buch entlässt den Leser nicht ohne einen positiven Entwurf. Recycling scheint heute die Lösung von Rationalität und Technik zu sein. Schlaudt plädiert dagegen, eine Kehrtwende zu einer echten Kreislaufwirtschaft anzustreben. Er sieht – zum Beispiel – in der Philosophie des Humus oder dem Einsatz von Mikrokulturen nicht nur eine Low-Tech-Variante, sondern einen metaphysischen und kosmologischen Gegenentwurf. „Der Humus ist der Gegenpol des Geldes, er ist die Währung der Zukunft, der wahre Reichtum. Hier haben wir die Lösungen zu suchen“. Und: die Menschen müssen wieder lernen, den Dingen einen Wert zu geben, das heißt keine Produkte zu kaufen, die nur eine kurze Lebenszeit versprechen.

Die Lektüre bestärkt uns in der Motivation, auf künftigen Reisen weiterhin nicht nur vermeintliche Traumlandschaften aufzusuchen, sondern die realen Probleme unserer Welt ebenso Augenschein zu nehmen.

Literatur:
Oliver Schlaudt, Zugemüllt, eine müllphilosophische Deutschlandreise, CH Beck Verlag, München 2024