Neapel, schrecklich schön

Dichter sind selten sprachlos. In seiner italienischen Reise hat sogar ein Johann Wolfgang von Goethe Mühe, die einmalige Atmosphäre am Golf von Neapel zusammenzufassen. „Wenn ich Worte schreiben will, so stehen mir immer Bilder vor Augen des fruchtbaren Landes, des freien Meeres, der duftigen Inseln, des rauchenden Berges, und mir fehlen die Organe, das alles darzustellen“ schreibt er am 17.3.1787 in sein Tagebuch.

Der Reisebericht prägt bis heute unser Bild von Italien – und von der Bevölkerung im Reich der Zitronen. „Alles deutet darauf dahin, dass ein glückliches, die ersten Bedürfnisse anbietendes Land auch Menschen mit glücklichem Naturell erzeugt, die ohne Kümmernisse erwarten können, der morgige Tag werde bringen, was der heutige gebracht, und deshalb sorglos dahin leben.“ Die Idee von der Leichtigkeit des Südens, im Kontrast zu dem von Arbeit geprägten Alltag im Norden, setzte sich früh als eine Art Fantasma im kollektiven Bewusstsein der Deutschen fest.

Sonne, Meer, das emsige Leben auf den Straßen faszinierten Goethe zweifellos, aber es finden sich in der italienischen Reise ebenso Hinweise auf die Ambivalenz seiner Erfahrungen: „Das Schreckliche zum Schönen, das Schöne zum Schrecklichen, beides hebt einander auf und bringt eine gleichgültige Empfindung hervor. Gewiß wäre der Neapolitaner ein anderer Mensch, wenn er sich nicht zwischen Gott und Satan eingeklemmt fühlte.“

Auf der Zugfahrt von Sorrent in die Metropole, entlang am Vesuv und das Meer immer in Sichtweite, unterhalten wir uns über diesen Zwiespalt. Ein anderes Thema: das Neapel-Buch „die Haut“ von Curzio Malaparte, dessen Haus, auf einer Klippe gelegen, wir auf unserem Besuch auf Capri gesehen haben. „Neapel ist ein Pompeji, das niemals verschüttet wurde. Es ist keine Stadt, es ist eine Welt.“Der Schriftsteller fasst die Geschichte der Bevölkerung in seinem Roman so zusammen: „Kein Volk auf Erden hat so viel gelitten wie das neapolitanische Volk. Es erduldet Hunger und Knechtschaft seit zwanzig Jahrhunderten und klagt nicht.“

Es waren die Tage der „Pest“ in Neapel. Mit diesem Satz beginnt das Anti-Kriegsbuch, das den Zerfall der Sitten im Jahr 1943 bei Ankunft der Alliierten beschreibt. Die Nazis wurden endlich vertrieben, aber in der Stadt herrscht Hunger. Mit drastischen Worten kreist der Schriftsteller um die Not, die Prostitution, den Schwarzhandel und das Verbrechen. Unter diesen Umständen haben es die alten Ideale schwer: „Es ist die moderne Zivilisation, diese Zivilisation ohne Gott, welche die Menschen zwingt, ihrer eigenen Haut eine solche Bedeutung beizumessen. Es ist nicht als die Haut, was heute zählt.“

Reale Erfahrungen, Fiktionen und fantastische Einfälle des Autors wechseln sich ab. Der Strudel des Zerfalls ergreift Sieger und Besiegte, bis der Vesuv ausbricht und an die gewaltige Kraft der Natur erinnert. Sein Roman, verstörend und faszinierend zugleich, ist heute Teil der Literaturgeschichte.

Nach der Ankunft am Bahnhof entschließen wir uns, nur einen ziellosen Spaziergang durch die Stadt zu unternehmen. Es gibt viele Touristen, aber Neapel wirkt nicht museal. Dazu ist das bunte Treiben in den Straßen, Gassen und Plätzen zu präsent. Wir schlendern durch Straßenmärkte. Hier findet sich alles, vom frischen Fisch bis zu verdächtig billigen Zigaretten. Allgegenwärtig ist der Fußball und zahlreiche Wandmalereien huldigen den Straßenfußballer Maradona. Das spanische Viertel, mit seinen unübersichtlichen, engen Gassen erinnert an die sozialen Gegensätze dieser Metropole und an die Mythen, die sich um die Aktivitäten der Camorra bilden.

Auf einem Platz bleiben wir vor überfüllten Müllcontainer stehen. Nach den Müllskandalen der Vergangenheit ist die Praxis strikter Mülltrennung in Neapel und der Region ein wichtiges politisches Statement. Die Zivilgesellschaft toleriert die unkontrollierte Müllentsorgung, ein Symbol des Verbrechens, nicht mehr. „Der Müll ist Gold“, mit dieser zynischen Formel schockierte schon 1992 ein ehemaliger Mafia-Boss nach seiner Festnahme.

Indem sie die marktüblichen Entsorgungspreise unterbietet, schließt die Camorra seit vielen Jahren Allianzen mit müllproduzierenden Unternehmen weltweit – und macht sie zu Teilen ihres kriminellen Imperiums. In der Region rund um Neapel wurden insgesamt schätzungsweise 28 Millionen Tonnen Giftmüll in Äckern vergraben oder auf freien Landflächen verbrannt. Hier ist er wieder, der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Schönem und Schrecklichen, der in diesem Urlaubsparadies erneut auftaucht.

„Reise in das Reich der Camorra“ – der Bestseller von Roberto Saviano erreichte seit 2006 eine Millionenauflage. Ein beachtlicher Erfolg des Schriftstellers, allerdings mit für ihn schlimmen Folgen. „Nach zehn Jahren unter Polizeischutz erzählst Du nicht mehr von Deinem alltäglichen Leben, denn die eigentliche Frage lautet doch: Warum bist Du noch nicht tot?“ berichtet er im Vorwort einer neueren Auflage.

Im Kapitel „Feuerland“ beschreibt Saviano das Hinterland von Neapel und seine Expeditionen zu den illegalen Lagerstätten. Mülldeponie, Erdloch, Grube – diese Begriffe werden für ihn immer mehr zu konkreten, sichtbaren Synonymen der tödlichen Gefahr für die Menschen, die im Umkreis dieser Stätten leben. Der Transfer des Mülls vom reichen Norden in den Süden wird noch lange ein politisches Thema in Italien bleiben.

Der Golf von Neapel ist ein Spiegel unserer Zeit. Hier bestaunt man die Schönheit der Natur, geniest das Leben und trifft genau auf die Umweltprobleme, die moderne Konsumgesellschaften und der Tourismus verursachen. Die bedrohliche Unruhe des Vesuvs, für die es immer wieder Anzeichen gibt, sorgt ebenso wie die soziale Ungleichheit in Italien und die Armut in den südlichen Regionen. Goethe hat die Möglichkeit der Revolution mit den unkontrollierbaren Ausbrüchen der Natur verglichen und stattdessen auf maßvolle Veränderungen, im Sinne einer Evolution, gehofft.

Auf der Rückfahrt beschließen wir, die Stadt bald wieder zu besuchen. Es ist ein Tanz auf dem Vulkan, schön und schrecklich zugleich.

Literatur:
Goethe, italienische Reise, CH Beck, München 2017
Roberto Saviano, Gomorrha, dtv, 18. Auflage, München 2023
Curzio Malaparte, Die Haut, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006