Nietzsche

Nietzsche, der Wanderer

Und immer wieder diese harte innere Stimme, welche befahl: „fort von hier! Vorwärts, Wanderer! Es sind noch viele Meere und Länder für dich übrig: wer weiß, wem Alles du noch begegnen mußt!“

Friedrich Nietzsche, Nachlass / Fragmente

Berühmte Reiseziele, darunter Sils Maria, Genua oder Nizza, sind mit dem Werk des Philosophen Friedrich Nietzsche verknüpft. Als freier Geist begriff er, dass man sich in der Welt nur als Wanderer, als Nomaden heimisch fühlen kann. Für den Denker hat diese Einstellung nichts zu tun mit der Rastlosigkeit jener Menschen, die vor der eigenen inneren Leere, Öde und Langeweile flüchten und immer wieder nach Zielen dürsten. In seiner Aphorismen Sammlung Menschlich-Allzumenschliches schreibt er: „Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer – nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht.“ Der höchste Grad, den ein Reisender erringen kann ist für den Denker erreicht, wenn das Gesehene eingelebt wird und zu Handlungen und Werken führt. Der Wanderer im Sinne Nietzsches ist ein Künstler, ein Tänzer, ein Schaffender.

In der atemberaubenden Gebirgswelt im Engadin, beim Spaziergang um einen Bergsee, überkam den Denker die Idee des Übermenschen, deren Entstehungsgeschichte in seinem berühmten Zarathustra wortgewaltig erzählt wird. Das Buch beschreibt das Scheitern der Lehre dieser Gestalt, die seine Anhänger auf eine gottlose Welt vorbereiten will, ohne genau zu klären, ob hier ein Dichter, Philosoph, Prophet oder Gesetzgeber spricht. Denkfiguren wie die ewige Wiederkehr des Gleichen, der Wille zur Macht und der Nihilismus tauchen aus einem Meer von Metaphern und Sprüche auf. Das Werk Nietzsches dient weder einer Ideologie, noch bietet sich ein System an. Generationen von Lesern versuchen die Rätselschrift zu entziffern und finden sich so in einer Übung wieder, die das eigene Denken anregt. Die „Selbstüberwindung“, eine der Maximen der Lehre Zarathustras, wird mit der Metapher der Wanderung, insbesondere des Bergsteigens verknüpft.

In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gehört der Wechsel von Sils Maria im Sommer und der französischen oder italienischen Riviera im Winter zur Routine des berühmten Mannes. „Nizza und Engadin: aus diesem Cirkeltanz darf ich altes Pferd immer noch nicht heraus“ liest man im Briefwechsel mit Malwida von Meysenburg. Die Aufenthalte in Nizza dienten der Klärung und Ordnung seiner Gedanken. Überhaupt empfahl Nietzsche zwischen mehreren, positiv wirkenden Orten zu pendeln, um ihre Wirkungen durch den Kontrast zu stärken.

Auf unserer Reise im Mai hat uns Nizza in den Bann gezogen. Von der Nietzsche-Terrasse, auf einer Anhöhe, kann man die einmalige Lage Nizzas, mit seinen französischen und italienischen Wurzeln, gut überblicken. Am 24.11.1885 beschreibt Nietzsche in einem Brief an Heinrich Köselitz seine Eindrücke: „Die Luft ist unvergleichbar, die anregende Kraft (ebenso die Lichtfülle des Himmels) in Europa nicht zum zweiten Mal vorhanden.“ Der Denker, überzeugter Europäer und scharfer Gegner des Nationalismus fügt am Ende hinzu: „Man ist hier so außerdeutsch – ich kann es nicht stark genug ausdrücken.“ Die Deutschen, so liest man im Nachlass, sind aus Sicht Nietzsches „vielleicht nur in ein falsches Klima geraten. Es ist etwas in ihnen, das hellenisch sein könnte – das erwacht bei der Berührung mit dem Süden.“

In Nizza erlebt der gesundheitlich angeschlagene Denker kalte Winter und immer wiederkehrende Einsamkeit. Die Angst zu erblinden, peinigt ihn. Am 23. Februar 1887 wird er während eines Spaziergangs Augenzeuge eines Erdbebens und reagiert kühn mit den Worten: „Welches Vergnügen, wenn die alten Häuser über einem wie Kaffeemühlen rasseln! Wenn das Tintenfass selbständig wird! Wenn die Straßen sich mit entsetzten halbbekleideten Figuren und zerrütteten Nervensystem füllen!“

Nicht weit östlich von Nizza besuchten wir das kleine, traumhaft über dem Mittelmeer gelegene Maurennest Èze, eines der Lieblingsorte des Denkers. „Nietzsche …besaß das ausgeprägteste Talent, bevorzugte Stellen der Erde aufzufinden“ urteilte Meta von Salis treffend über den feinfühligen Denker. Hier, auf dem steilen Weg, der vom am Meer gelegene Bahnhof in das Bergdorf führt, sind einige Abschnitte aus Teil III des Zarathustras („Von alten und neuen Tafeln“ ) entstanden. Wir folgen dem Rat des Philosophen, nicht wie Vergnügungs-Reisende nur „den Berg hinaufzusteigen, dumm und schwitzend“, sondern die Aussichten zu genießen. Ganz im Sinne des Philosophen, der offen war für das Neue und Fremde, um es in einer Weise in sich aufzunehmen, die dem Leben neue Energie zuführt.

Literatur:

Friedrich Nietzsche, Der gute Europäer, Die Landschaften seines Lebens, Knesebeck Verlag

Friedrich Nietzsche, Die Kunst der Gesundheit, Verlag Karl Alber, Freiburg 2012