Nizza des Ostens

Bis heute umwehen die sogenannten Kaiserbäder die Mythen der älteren und neueren Geschichte. Der bekannteste Ort auf der Insel Usedom, Heringsdorf, entzieht sich der inflationär gebrauchten Floskel vom „Nizza des Ostens“. Einst trafen sich hier Künstler, Schauspieler, Industrielle und die Ministerialbürokratie des deutschen Kaiserreiches, heute sind es die Massen der Urlauber, Reisenden und Touristen. Die Spuren der wechselhaften Geschichte dieses Landstriches sind auf jedem Spaziergang – ob an der Ostsee entlang nach Ahlbeck, oder in Heringsdorf selbst – nicht zu übersehen.

Für ein Besuch mit dem Wohnmobil bietet sich ein schmuckloser Stellplatz am Bahnhof an, der allerdings der ideale Ausgangspunkt für ausgedehnte Spaziergänge ist. Das alte Flair der Gemeinde erschließt sich am besten, wenn man von der Ortsmitte zunächst auf der Kulmstraße den Berg hinauf läuft. Das Nizza des Ostens erahnt man hinter schmiedeeisernen Toren und Zäunen, in den Gärten, wo den Privilegierten einst und heute ein traumhafter Blick auf die Ostsee geboten wird. So gehört beispielsweise die Villa Achterkerke zu den ältesten Bauwerken der berühmten Bäderarchitektur.

Läuft man über den Hügel den Weg hinunter in die Maxim-Gorki-Straße zur Villa Irmgard, bietet sich ein Besuch des Arbeitsplatzes des russischen Schriftstellers an. Das arabische Zimmer, indem der Dichter schrieb, wurde von einem Berliner Juristen eingerichtet. Als Gorki 1922 Heringsdorf verlies notierte er ins Gästebuch: „Dennoch und trotz alledem werden die Menschen eines Tages wie Brüder zusammenleben.“ Nur eine Hoffnung, wie wir heute wissen. Er ahnte nichts vom 2. Weltkrieg, dessen Spuren und Folgen auf Usedom immer gegenwärtig sind.

Von hier aus erreicht der Spaziergänger in wenigen Schritten den endlosen Sandstrand. Man läuft an der langen Seebrücke vorbei nach Ahlbeck, oder sogar bis in das benachbarte Polen. Einige Betonburgen in der Ferne weisen die Richtung. Über dem Strand thront das Hotel Ahlbecker Hof, das wegen seiner Reihe prominenter Gäste aus Politik und Gesellschaft berühmt wurde. Hier bietet sich an, auf der Promenade zurück nach Heringsdorf zu laufen, an Villen vorbei, die immer wieder an die Prominenz vergangener Tage erinnern. Heinrich Mann staunte auf seinem Besuch über die zahlreichen Säulen, die hier an der Ostsee gebaut wurden.

Viele dieser Gebäude, wie die imposante Villa Oechsler, erzählen ihre eigenen Geschichten. Zu DDR-Zeiten war die Gemeindebibliothek in dem Haus untergebracht, heute beherbergt das Schmuckstück ein elegantes Modegeschäft. Wenige Schritte später trifft man auf billige Boutiquen oder Geschäfte mit allerlei Krimskrams. Trinkt man am Platz einen Kaffee, erinnern die Preise an die neuen Inflationsgefahren. Der gewaltige Zustrom von Touristen in den letzten Jahren macht den Urlaub hier nicht billig.

Unser Rundweg gewährte den Blick auf die zahlreichen Gegensätze, die sich hier manifestieren: Konsum und Kultur, Vergangenheit und Gegenwart, schicke Hotels und trostlose Rehakliniken. Vielleicht macht gerade dies die eigenartige Faszination des Ortes aus. Am Abend ist der Blick von der Spitze der Seebrücke auf das Meer die eigentliche Seelennahrung. Wem die Ostsee nicht genug ist, wird auf einer ins Wasser verbauten Multi-Media Wand kontinuierlich mit bunten Bildern versorgt.

Wer wie wir etwas vom Innern der Insel sehen will, wird dort erstaunliche einsame Stellen finden. Hier steht die Zeit scheinbar still. Bei Kaiserwetter entdeckten wir im „Lieber Winkel“ eine kleine Badestelle, fern vom Rummel der Bäderlandschaft. Ein weiterer Gegensatz, den wir in Mecklenburg-Vorpommern schätzen, für jede Stimmung findet sich eben der passende Ort.