Die Fahrt von Bosnien, durch Montenegro bis an die albanische Grenze gehört zu den schönsten Strecken in Europa. Weil alle lokalen Campingplätze geschlossen sind, stehen wir einfach am Sandstrand von Ulcinj. Ganz im Süden von Montenegro sehen wir in der Ferne die albanischen Berge. Die Stadt gehört zu den ungeplanten Entdeckungen auf unserer Reise, denn hier findet sich neben dem Tourismus, von dem die Region lebt, originäres Leben. Vor dem Markt verkaufen die Fischer ihre Waren. Es gibt eine Auswahl hübscher Cafés, in dem die Einheimischen in die Morgensonne blinzeln.
Wir kommen ins Gespräch mit einem freundlichen, älteren Herrn, der, wie er uns erzählt, in Kassel lebt. Er ist Rentner und hat 55 Jahre in einer Autofabrik gearbeitet. Wir fragen ihn, ob ihn das Heimweh nach Ulcinj geführt hat. „Nein„ erwidert er entgeistert, „seine Heimat sei doch Deutschland“. Hier kenne er kaum noch jemanden, seine alten Bekannten seien fast alle tot. Er bleibe hier nur einige Wochen im Jahr, denn seine Frau vermisse nach kurze Zeit ihre Enkelkinder.
Uns gefällt es hier ausgesprochen gut, der Ort hat etwas, was wir einen poetischen Widerhall nennen würde. Am Hafen besuchen wir die Moschee der Seeleute. Früher war Ulcinj ein gefürchtetes Piratennest, algerische Piraten unterstützten die Osmanen in der Seeschlacht von Lepanto und durften als Gegenleistung in der Region siedeln. Cervantes, der berühmte Autor des „Don Quijote“ soll hierher einige Jahre als Sklave verschleppt worden sein. Auf dem Weg zur Burg über der Stadt mit ihrer Kirchenmoschee entdecken wir ein Denkmal für den großen Schriftsteller.
Der Burgberg zeugt von der wechselhaften Geschichte der Region, deren Ursprünge weit, bis in die illyrische Zeit zurückreichen. Den Grundstein für die Zitadelle legten die Illyrern vor über 2000 Jahren. Jetzt im November streifen wir einsam durch die alten Mauen. In einem Turm werden Fotografien ausgestellt, die das Leben der Menschen seit der Mitte des 19. Jahrhundert wieder spiegeln. Die Schwarz-Weiß Bilder wirken wie Felsen, die sich gegen den Strom der Zeit stellen.
Wir sind so beeindruckt von den Szenen, dass wir unsere Reiseroute ändern und das Fotografie-Museum im albanischen Shkodra besuchen. Kann man die Zeit einfangen? Petro Marubi, ein italienischer Maler, und zwei seiner Schüler haben es versucht. Marubi hat 1858 das erste Bild aus Albanien veröffentlicht – eine Sensation, denn vielen Europäern war das Land völlig unbekannt.
Die Sammlung, mit ihren hunderttausenden Bildern, musste die Familie 1950 dem albanischen Staat übergeben. In dem Museum besichtigen wir eine Auswahl ihrer Werke, die politische Geschichten, das kulturelle Leben und den Alltag der Leute beschreibt. Ihre Posen künden von Stolz, von Sieg und Niederlagen in einer dramatischen Phase der Geschichte.
Uns fasziniert eine Aufnahme, deren Stimmung an Franz Kafka erinnert. Vor einer verschlossenen Tür, es scheint ein Warteraum sein, sitzen eine Gruppe von Menschen, die auf etwas zu warten scheinen. Mit ernstem Ausdruck ist ihr Blick auf den unsichtbaren Fotografen zugewandt, der ihre vereinzelten Schicksale nun in einer Gesamtschau vereint. Der Beginn einer neuen Zeit.