Eine unserer Entdeckungen in London ist die wunderschöne Buchhandlung „Daunt Books for Travellers“. Es gibt hier eine unüberschaubare, nach Länder geordnete Auswahl von Literatur, die den Besucher zwingt sich auf seine Intuition zu verlassen. Wir erstehen ein ungewöhnliches Buch von Ryszard Kapuscinski: Meine Reisen mit Herodot.
Der reisende Schriftsteller, verstorben im Jahr 2007, galt in Polen als „Reporters des Jahrhunderts“. Geprägt ist der Autor zunächst von dem transzendentalen Akt und der Faszination Grenzen zu überschreiten, ein Vorgang, der für ihn wichtiger ist wie die Orte, das Ziel und Ende seiner Reisen. Der Korrespondent einer polnischen Zeitung reiste in den 1950er Jahren nach China und Indien.
Dabei erkennt er immer wieder die Bedeutung der Sprache, der Klang der Worte, die für ihn der Schlüssel einer tieferen Erkenntnis der Welt ist. In Afrika wird der Autor über die Vielfalt der Lebensformen und Dialekte staunen. Das Geheimnis anderer Zivilisationen zu entdecken bedarf der gründlichen Vorbereitung. Kapuscinski reist nie ohne eine Auswahl von Büchern, die Kultur und Vergangenheit seiner Reiseziele beschreiben und stößt doch immer wieder auf Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit.
Auf seinen Expeditionen nach Asien und Afrika schlägt der Autor die Historien des Herodot auf und bewegt sich so auf zwei Zeitebenen. Der Grieche, geboren um 490 vor Christus, selbst zeitlebens ein Reisender, erforschte die antike Welt, um ihre Bewohner kennenzulernen und sie zu beschreiben. Er leidet unter der Angst zu vergessen. Die Möglichkeit der Begegnung und davon zu erzählen, ist für ihn ein Grundvermögen des Menschen. Herodot war überzeugt, dass die Vielfalt der Welt immanenter Bestandteil ihres Wesens ist. Die Kultur der Anderen ist der Spiegel für das eigene Selbstverständnis. Sein Werk ist die erste große Reportage der Weltliteratur.
Immer wieder erzählt der Korrespondent aus der Welt des Griechen und seiner Version der Vergangenheit, zitiert Passagen aus den Historien und schafft so einen faszinierenden Kontrast zu seiner eigenen Zeit. Er erinnert an die These aus dem Werk, dass zahlreiche Elemente der griechischen Kultur in Wahrheit afrikanischen Ursprung haben. Herodot ist für ihn „ein Sprungbrett in eine andere Realität, ein Übergang von der Welt der Spannungen und nervösen Jagd nach Informationen zur Ruhe, Ausgeglichenheit und Stille bereits vergangener Dinge und Gestalten, die nicht mehr unter uns sind und manchmal von Anfang an bloß Produkte unsere Phantasie, flüchtige Schatten waren.“
Es lohnt sich das Schlusskapitel des Buches, unter der Überschrift „wir stehen im Dunkel, umgeben von Licht“ , mehrmals zu lesen. Dem Schriftsteller gelingt es hier, die Essenz des Reisens zu beschreiben, die unermüdliche Anstrengung die Welt kennenzulernen. „Der Mensch, der nicht mehr staunen kann“ schreibt Kapuscinksi „ist verbraucht, hat ein ausgebranntes Herz“. Herodot ist für ihn das Gegenteil davon, ein weltoffener Nomade, ein Suchender, ständig in Bewegung. Mit Hilfe der Lektüre der Historien grenzt sich der Reisende nicht nur von der Provinzialität des Raumes, sondern ebenso von einem provinziellen Zeitverständnis ab. Er überschreitet die Grenze die Zeit. Geschichte und Gegenwart unterliegen keiner Trennung, sie verschmelzen zu einer Erfahrung der Einheit.
Ryszard Kapuscinski, Meine Reisen mit Herodot, die andere Bibliothek, 2013