Sarajevo und seine Geschichten

„Man könnte auf die Idee kommen, Sarajevo sei eine Stadt, die entstanden ist, damit die Narration irgendwo einen Heimatort findet“ schreibt der bosnische Schriftsteller Dzevad Karahasan. Die Stadt ist ein Anziehungspunkt für all diejenigen, die ihre Geschichten aufschreiben, verstehen und lesen wollen.

In einem kleinen Buchladen entdecken wir ein Werk von Enes Karic in deutscher Übersetzung: „Lieder wilder Vögel“. Das Buch über die Rolle der Macht, der Liebe und des Glaubens ist historisch im Balkan des 16. Jahrhunderts angesiedelt und ist gleichzeitig eine Aktualisierung religiöser und philosophischer Fragen. Die Protagonisten des Romans sind Religionsgelehrte, Philosophen, Machthaber und Händler, die Handlung eingebettet in eine Beschreibung der Atmosphäre dieser Zeit. In der Nacht lesen wir in dem Buch und verstehen die diversen Wurzeln des Geisteslebens dieses Landes besser.

Am Morgen besuchen wir das Literaturmuseum in der Stadt, lesen die Biografien von Männern und Frauen, deren Namen fremd klingen. Einige sind vergessen, andere wie der Nobelpreisträger Ivo Andrić berühmt geworden. Sie alle teilen die gleiche Leidenschaft und schreiben aus unzähligen Perspektiven, woran sie geglaubt oder nicht geglaubt haben. So bringen die Autoren, die Christen, Juden, Muslime und Atheisten sind, eine geistige Welt hervor, die die Geschichte Sarajevos begleitet. Die vielen Baudenkmäler der Osmanen, der Österreicher und des kommunistischen Jugoslawiens spiegeln die Geistesgeschichte.

Abends, wenn wir aus der Altstadt hoch hinauf in die Berge in unser Camp fahren, benutzen wir ein Taxi. Die Gilde hat sich abgesprochen, es gilt ein Einheitspreis, der nicht zu verhandeln ist. Die Fahrt lohnt sich für beide Seiten. Auf der Strecke entwickeln sich Gespräche über Land und Leute. Wir begegnen einer freundlichen Taxifahrerin, die sehr gut Deutsch spricht. Als junge Frau, während des Krieges in den 90er, lebte sie zwei Jahre in Deutschland und kehrte später zurück. Es war eine harte Zeit, seufzt sie. „Ich hatte Heimweh und Angst um meine Eltern, die weiter in Sarajevo wohnten.“

Wir fragen sie, ob sie es für möglich hält, dass sich die schrecklichen Ereignisse eines Tages wiederholen könnten. „Ja, ich glaube das. Wir alle glauben das“, antwortet sie, mit einem gequälten Lächeln, das ein Achselzucken begleitet. In ihrem Ausdruck spiegeln sich Sorge und Schicksalsergebenheit. Wir sprechen über ihre ökonomische Lage. Sie beklagt sich, dass ihre gut ausgebildeten Kinder kaum Arbeit finden. Wir verstehen ihren Unmut. Welche Mutter hat schon gerne, dass ihre Lieben wegen der mangelnden Perspektiven die Heimat verlassen müssen.

Und sie deutet etwas an, das wir in Gesprächen mit Slowenen, Kroaten und Bosniaken öfters hören: „In Jugoslawien waren die Verhältnisse bescheiden, aber immerhin gab es keine so extremen sozialen Unterschiede.“ Wir glauben nicht, dass sich hier eine Nostalgie ausdrückt, oder gar eine Sehnsucht nach der Rückkehr des Kommunismus. Die Botschaft ist einfacher: Es gibt in dieser Region nicht nur Gewinner, sondern auch Armut und Zukunftsängste. Leider sind diese Phänomene – und nicht nur in Bosnien – der Nährboden für politische Unruhestifter. Wir verabschieden uns herzlich von der Frau und das Gespräch entfaltet seine Wirkung.

Am nächsten Morgen besuchen wir die Markthalle in Sarajevo. Hier sitzen Frauen vor ihren Ständen mit Obst und Gemüse und wirken gelangweilt. Die Geschäfte scheinen schleppend zu laufen. In der Ecke des Marktes sehen wir die Spuren des Einschlages einer Granate. Die Stadt wurde vier Jahre lang von allen Seiten beschossen. Am 5. Februar 1994 starben hier viele Menschen. Wie bei jedem Krieg kann man sich als Außenstehender nicht vorstellen, was eine Belagerung über so lange Zeit und das Leben in ständiger Todesgefahr bedeutet.

Heute gibt es wieder Gründe für einen Optimismus. Das Land ist im Aufbruch, entwickelt sich: In vielen Städten in Bosnien sieht man Neubauten, moderne Geschäftshäuser und neue Straßen. Trotz des pulsierenden Lebens entdeckt man die Narben vergangener Tage an den alten Häusern. Man lernt hier, dass der Frieden etwas Wertvolles ist und dass man die Zeit nutzen muss, um Brücken zu schlagen zu den gutwilligen Anderen, ihre Kultur und Religion ebenso achten sollte, wie die eigene.

Was ist die Besonderheit dieses Ortes? Dzevad Karahasan schreibt über seine Heimatstadt: „In Sarajevo ist die kulturelle Identität (…) unverbrüchlich mit einer Art sozialen Unbehagens verbunden, weil der soziale Kontext des Menschen in Sarajevo ständig daran erinnert, dass die Welt voll von andersartigen Leuten ist, dass sein Glaube nur einer von vielen ist, dass er und alles Seine nur eine von unzähligen Möglichkeiten im Ozean der göttlichen Allmacht sind.“

Für den bosnischen Schriftsteller hängt es vom Charakter und Erleben des Menschen ab, ob er in dieser Situation eine Chance, eine Verpflichtung zum gegenseitigen Kennenlernen oder eine Gefahr sieht. Die Existenz von Moscheen, Synagogen und Kirchen in Bosnien erzählen von einer Tradition: die Kunst des Zusammenlebens auf engstem Raum. Ein Projekt, das – wie die Geschichte zeigt – gelingen oder scheitern kann.

Literatur:
Eines Karic, Lieder wilder Vögel, Schiler Verlag, Berlin, 2015 Dzevad Karahasan, Die Schatten der Städte, Essays, Insel Verlag, Berlin, 2010