Der Aufenthalt Goethes in Verona im September 1786 verläuft typisch: Er interessiert sich für Pflanzen, die Kunst und das Leben der Bevölkerung. Nicht zuletzt geniest er das inspirierende Wetter im Süden, das hier ganz anders als in Weimar ist. Sein Blick zurück ist nüchtern: „Im ewigen Nebel und Trübe ist es uns einerlei, ob es Tag oder Nacht ist; denn wie viel Zeit können wir uns unter freiem Himmel wahrhaft ergehen und ergötzen?“
Wir parken unser Wohnmobil auf dem städtischen Stellplatz und machen uns bei sommerlichen Temperaturen zu Fuß auf den Weg in die Stadt.
„Das schönste, aber immer geschlossene Tor heißt Porta de Palio“ heißt es in der italienischen Reise. Wir lassen es links liegen, denn es ist noch immer verschlossen und wirkt heute etwas baufällig. In der Innenstadt versteht man schnell die Begeisterung des Schriftstellers über das einmalige Ensemble aus Bauwerken, Kunstwerken und malerischen Winkel. „Es liegt in meiner Natur“ schreibt er, „das Große und Schöne willig und mit Freuden zu verehren, und diese Anlage an so herrlichen Gegenständen Tag für Tag, Stunde für Stunde abzubilden, ist das seligste aller Gefühle“. Eine Maxime, die der Dichter auf seiner ganzen Reise vorleben wird.
Man ahnt den ungeheuren Eindruck, den die römische Arena auf Goethe machte. Hier begegnet er zum ersten Mal einem großen Bauwerk der Antike. Allein, das Amphitheater ist leer: „Da ist etwas Großes und doch eigentlich nichts zu sehen.“ Wir können das nachvollziehen und lesen auf bunten Plakaten über anstehende Aufführungen großer Opern und Konzerte.
Inzwischen ist die Hitze in der Stadt spürbar und wir spazieren zu einem anderen Ort, den Goethe in seinem Tagebuch beschreibt: den Renaissancegarten Giusti. Hier gibt es ausreichend Schatten und einiges an Gartenkunst zu bewundern. Es sind die Zypressen, denen der Dichter besonders zugewandt ist. „Ein Baum, dessen Zweige von unten bis oben, die ältesten wie die jüngsten, gen Himmel streben, der seine dreihundert Jahre dauert, ist wohl der Verehrung wert.“ Die Goethe-Zypresse, lesen wir im Parkführer, wurde stolze 600 Jahre, bis sie im Jahr 2020 ein Sturm fällte. Auch Bäume leben nicht ewig.
Auf unserm Rückweg zum Stellplatz beobachten wir zahlreiche Straßenszenen, das bunte Treiben in den Gassen und das gemütliche Ausruhen in den Straßencafés. Schon Goethe sog diese einmalige Stimmung auf, beschreibt Märkte, besucht ein Gefängnis und beobachtet die Einheimischen beim Sport und Flanieren. Bezeichnend, dass er dabei der armen Bevölkerung auffällt. „Obgleich das Volk seinen Geschäften und Bedürfnissen sehr sorglos nachgeht, so hat es doch auf alles Fremde ein scharfes Auge“, bemerkt er. Der Grund für die Aufmerksamkeit ist einfach. Der berühmte Reisende trägt schöne Stiefel, ein Luxusgut.
In der Nacht machen wir uns nochmals in die Stadt auf. Wir suchen nach einem geheimnisvollen Ort, an dem eine der schönsten Passagen der italienischen Reise spielt. „Der Wind, der von den Gräbern der Alten her weht, kommt mit Wohlgerüchen wie über einen Rosenhügel.“ Meisterhaft beschreibt Goethe einige Grabdenkmäler. Seine Ortsangaben sind allerdings eher kryptisch: die Erwähnung eines Theaters mit ionischen Säulen, einer Büste von Maffei und eines Innenhofes erklären die Lage. Wir vermuten, es handelt sich um die heutige Piazza Signori.
In unmittelbarer Nähe sind die monumentalen, gotischen Grabmäler der Herren von Verona zu sehen. Über diese Kunstwerke verliert er jedoch kein Wort. Der Dichter, der zeitlebens Beerdigungen mied, bewundert vielmehr die letzten Ruhestätten einfacher Leute und die szenischen Darstellungen ihres Lebens. „Die Grabmäler sind herzlich und rührend und stellen immer das Leben her.“ Goethe lobt den unbekannten Künstler, der, mit „mehr oder weniger Geschick, nur die einfache Gegenwart der Menschen hinstellt, ihre Existenz dadurch fortsetzt und bleibend macht.“
Unsere Suche nach dem konkreten Ort endet ergebnislos. Handelt es sich hier um eine Fiktion Goethes? Das ist nicht wirklich wichtig. Am nahegelegenen Garibaldi-Denkmal setzten wir uns in einem Park auf eine Bank und genießen unsere Sommernacht in Verona.
Literatur:
Goethe, Italienische Reise, Verlag CH Beck, München 2017