Provence, Frankreich

Traumhafte Provence

Wie eine Insel ist die Kleinstadt L`Isle-sur-la-Sorgue von den Wasserläufen der Sorgue umgeben. In den berühmten Antiquitätenläden finden sich alte Möbel, Bilder mit zweifelhafter Herkunft und sonstiges Strandgut. Deswegen sind wir nicht hier. Wir suchen nach Spuren des Dichters René Char (1907-1988), der hier geboren wurde. Ein Poet hinterlässt Spuren, denen man nachträumen kann. Nur, das Maison Char, das wir besuchen wollen, es existiert nicht mehr. Die freundliche Dame im Touristenbüro schüttelt den Kopf, im Geburtsort des Schriftstellers gibt es kein Andenken mehr.

Unsere Enttäuschung währt nur kurz. Wir entdecken in einer kleinen Gasse einen Ausstellungsraum des Bildhauers Philippe Richard, dessen Skulpturen wir vor einigen Tagen im botanischen Garten von Èze, in der Nähe von Nizza, bewundert haben. Eine Überraschung! Ein freundlicher Mann unterbricht sogar sein Mittagessen, um uns von dem Künstler zu erzählen. Seine weiblichen Figuren erschafft Richard in einem Dorf in der Nachbarschaft. Die großformatigen Werke sind günstig zu erstehen. Falls wir den Verkäufer richtig verstehen, handelt es sich um die Kleinigkeit von 15.000 Euros. Wir zeigen freundliches Interesse, erklären aber, dass im Hausschuh leider nur wenig Platz ist. Das ist ein Argument und die Basis für einen harmonischen Abschied.

Es ist heiß an diesem Tag.

Wir erinnern uns an den Rat Jean Giono´s: der echte Südmensch flüchtet aus der Sonne in den Schatten. Wir lassen in einem kleinen Garten, unter großen alten Platanen, die Füße in den kalten Fluss hängen. Vor uns, auf der anderen Seite, eröffnet sich ein Fenster: eine Straßenszene am Quai Jean Jaurés. Nichts spektakuläres: Wir sehen auf drei nebeneinander stehende Häuser, in verblichenen Pastellfarben, die sich in der Sonne aufladen. Es ist das Gebäude der Gendarmerie, von der die Trikolore hängt, ein Modegeschäft, und ein Reisebüro, mit der Werbeaufschrift „Passatwinde träumen“. Vor dem Kleiderladen stehen sechs unauffällig dekorierte Puppen und eine junge Frau, mit einer großen Sonnenbrille, die telefoniert. Sie bewegt sich nicht, es scheint wichtig zu sein. Durch den blauen Himmel schwenkt im Hintergrund, ein orangefarbener Liebherr-Kran seinen Arm, als wolle er die kleinen Häuser neu zusammen setzen. Das ist also die Provence! Und, wir wundern uns nicht, dass das Reisebüro niemand betritt: warum soll man von hier weggehen?

Im benachbarten Fontaine de Vaucluse nehmen wir wieder das Thema Char auf. Das Petrarca-Museum ist eigentlich den Träumerein des alten Dichters über seine geliebte Laura gewidmet. Das interessiert uns diesmal nicht. Wir halten uns länger im Erdgeschoss auf; dort sind Handschriften Char`s zu sehen. Seine Schriften sind mit Illustrationen versehen. Künstler wie Georges Braque haben die geheimnisvollen Gedichte mit Farben belebt. Der Maler und der Dichter sind hier als enge Verwandte präsent. Auch hier fragen wir, warum das Maison Char geschlossen wurde und bekommen keine Antwort. Fehlt es vielleicht an Lesern, fragen wir uns, die sich Zeit lassen, sich mit einer Dichtung auseinanderzusetzen, die als hermetisch, verschlossen, schwierig, aber ebenso als wunderbar gilt?

Der Charakter Chars ist so klar wie der Fluss, der hier nur einige Hundert Meter aus einem Felsplateau herausschießt. Er hat in den Zeiten des französischen Widerstandes nicht gedichtet, sondern gekämpft. Er war zeitlebens politisch, schrieb ein Buch, das die Sorge um die Verschmutzung der Sorgue aufnimmt. 1965 wehrt er sich gegen die Ansiedlung von Atomraketen in der Region. „La Provence. Point Omega“ heißt ein Pamphlet, von denen er damals zweitausend Stück in seiner Heimatstadt verteilt hat. Der Dichter befürchtete, dass die Eroberung des Raumes mit dem Verlust an poetischer Erfahrung einhergeht.

Seine Sprache ist anspruchsvoll, lehnt an die Natur an, die Felsen, das Wasser, erinnert mit surrealen Untertönen an das Geheimnis der Existenz und die Abgründe der Geschichte. Wir kaufen im Museumsladen ein wunderbares kleines Buch: Lettera amorosa. „Es ist für Liebhaber“ schreibt er in der Widmung, „die auf den Straßen, in den Wäldern unterwegs sind, zwischen Abkehr und Rückkehr der Götter, in brutalen Zeiten“.

In seinem Gedicht „Gesang der Schlaflosigkeit“, lesen wir, in einer uns bekannten und unbekannten Sprache zugleich:

Amour hélant, L´Amoureuse viendra,
Gloria de l’été, o fruits!
La flèche du soleil traversera ses lèvres,
Le trèfle nu sur sa chair bouclera,
Miniature semblable à liris, lorchidée,
Cadeau le plus ancien des prairies au plaisir
Que la cascade instille, que la bouche délivre.

Und was wir nicht verstehen in der Provence, darüber träumen wir. Gelegenheit dazu gibt ein Café am oberen Flusslauf. Die Terrasse ist in ein sanftes Grün getaucht. Beinahe unwirklich wirkt das Ganze, wie eine Manifestation des schönen Wortes: „Sommerfrische“.

Literatur:
René Char, Lettera amorosa, Poésie / Gallimard, Paris 2020