Volle Gläser

Wir studieren einen längeren Text von Wilhelm von Humboldt: eine Leseerfahrung! Obwohl geübte Leser, setzen wir immer wieder neu an, um die komplexen Schachtelsätze zu verstehen. Die Übung erfordert Konzentration, bis das Erstaunen über die kunstvolle Architektur der Sätze und die überragende Rhetorik des Klassikers einsetzt.

In der Buchhandlung fällt uns ein Buch von Jonathan Haidt, Generation Angst, auf. Das Werk zeigt, „wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen“. Uff, das ist eine weitere Pflichtlektüre für jung gebliebene Großeltern. Die Folgen des allgegenwärtigen Medienkonsums sind generationsunabhängig nicht mehr zu übersehen. Neu ist das Phänomen nicht. 1958 schrieb Huxley in „Brave new world“ über die Überflutung mit Belanglosigkeiten und die Ablenkung durch Nichtigkeiten, „um die Leute davon abzuhalten, den Wirklichkeiten und der sozialen und politischen Lage zu viel Aufmerksamkeit zu schenken.“

Uns fällt in letzter Zeit auf, dass wir alle „volle Gläser“ sind. Das heißt, nur selten sind wir aufnahmebereit, in der Lage unsere eigenen Inhalte, zugunsten der Anderen, denen wir zuhören, für einen Moment lang zu vergessen. Viele Unterhaltungen – wenn sie nicht schon von vornherein Monologe sind – bestehen aus einem gegenseitigen Austausch von Aussagesätzen. Fragen sind da eher die Ausnahme. Das Phänomen prägt letztlich nicht nur das soziale, sondern ebenso das politische Feld. Die Reizkultur führt zur permanenten Gereiztheit. Das souveräne Zulassen von Argumenten, die störend, aber bildend sind und das Interesse an substantieller Gegenargumentation schwindet.

In der Welt des modernen Reisenden spiegelt sich heute ebenso der Überfluss an Sehenswürdigkeiten, Informationen und Bilder. Berühmt ist eine Bemerkung des französischen Schriftstellers Stendhal (1783-1842) auf seiner Reise in Italien:

„Ich befand mich bei dem Gedanken, in Florenz zu sein, und durch die Nähe der großen Männer, deren Gräber ich eben gesehen hatte, in einer Art Ekstase. […] Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen; in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.“

In Anlehnung an die Reiseberichte nannte Graziella Magherini 1979 diese psychosomatische Störung Stendhal-Syndrom. In den folgenden Jahren studierte sie mit ihrem Team zahlreiche Fälle von reisenden Patienten, die in Florenz psychisch krank wurden. Die Eindrücke waren nicht mehr zu verarbeiten.

Bei unserem Vortrag über die italienische Reise Goethes stellen wir den Dichter vor, sehen in ihm einen Entdecker der Langsamkeit. Zwar besichtigt er unzählige Kunstwerke in einem intensiven touristischen Programm, diese Erfahrungen sind aber Teil einer Metamorphose (von der Kunst, über die Natur, zur Liebe) und werden zu einem Schlüssel der Kreativität. Manfred Osten bezeichnet die Reiseerfahrungen Goethes als eine „Schule der Aufmerksamkeit“, die es erlaubt, alle Dinge – groß oder klein – zu sehen, wie sie sind. In den Wanderjahren lautet die Maxime: „Aufmerksamkeit ist das Leben!“

Zurück zu Wilhelm von Humboldt. Der Gelehrte betonte, dass das Assoziative eine Grundlage für kreative Prozesse ist. Unser Geist – wenn wir ihn nicht permanent überfordern – stellt ständig neue Verbindungen zwischen Ideen her und ist in der Lage, innovative Lösungen für Probleme zu finden. Dieses dynamische Verfahren steht im Gegensatz zu einem starren, rein logischen Denken, das Humboldt als zu begrenzt ansah, um die Komplexität der Welt vollständig zu erfassen. Goethes Tagebuch über seine Erlebnisse und Erfahrungen in Italien führen meisterhaft in diese Praxis ein.

Literatur:

Manfred Osten, Goethe und das Glück, Wallstein Verlag, Göttingen 2017
Jonathan Haidt, Generation Angst, Rowohlt Verlag, Hamburg 2024
Wilhelm von Humboldt, Grenzen der Wirksamkeit des Staats, Holzinger Verlag,