Die Künstler WG

In das Stadtzentrum von Rom fahren wir mit einer alten Straßenbahn. Unser Spaziergang beginnt am Bahnhof Termini, wir laufen zunächst hinunter zum Forum Romanum. Hier zeigt sich Rom wie ein offenes Geschichtsbuch: Im Vordergrund liegen die antiken Ruinen des Forums, zerfallene Mauern und Säulenreste, die vom römischen Weltreich erzählen. Dahinter erheben sich Kirchen aus der Renaissancezeit und majestätische Pinien. Über allem thront das strahlend weiße Vittoriano, ein Monument der italienischen Nation. Hier begegnen sich Jahrtausende – Schicht für Schicht sichtbar auf engstem Raum.

In Rom suchte Goethe, wie man in der italienischen Reise nachlesen kann, in erster Linie seine antiken Ideale: das Schöne und Wahre. „Ich will Rom sehen, das bestehende, nicht das mit jedem Jahrzehnt vorübergehende“, bekennt das Weimarer Dichtergenie. Eine Absichtserklärung, die man angesichts der Fülle historischer Gebäude verstehen kann. Auch wenn Goethe monatelang in der Hauptstadt Italiens unterwegs war, musste er sein Interessengebiet einschränken. „Rom ist eine Welt, und man braucht Jahre, um sich nur erst drinnen gewahr zu werden.“

Um die ungeheure Bedeutung der Stadt für das Leben Goethes zu verstehen, müssen wir eine Bemerkung des alten Goethes zur Kenntnis nehmen. Vom Zustand der Altersmelancholie ergriffen, erklärt Goethe zu Eckermann: „Ja, ich kann sagen, dass ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen; ich bin mit meinem Zustand in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh gewesen.“

Wir marschieren weiter zum Trevi-Brunnen. Es herrscht dort dichtes Gedränge. Hunderte Smartphone-Besitzer kämpfen um die beste Perspektive. An Ostern ist die ganze Stadt voll von Pilgern, Touristen und Einheimischen. Unser Ziel ist der Korso, eine lange Straße, an deren Ende eine berühmte Künstler-Wohngemeinschaft ihr Domizil hatte. Tausende Menschen drängeln sich durch die Geschäftsstrasse.

Zum Glück ist das kleine Museum eine Oase der Ruhe. Wir laufen – zu unserer Überraschung – alleine durch die Räume. Goethes kleines Zimmer ist bescheiden und ohne jeden Komfort. Der Dichter genießt das, ebenso wie sein Leben unter fremden Namen. Die Flucht aus Weimar war das Resultat eines „Burnout“. Die gesellschaftlichen und politischen Verpflichtungen ließen keinen Raum mehr für die künstlerischen Ambitionen des Schriftstellers. In Rom soll nun alles anders werden. Der Dichter erwartet eine Verwandlung, die die intensive Beschäftigung mit der Kunst, der Natur und dem italienischen Lebensstil bringen soll.

Der Rhythmus in der Künstlerrunde ist von abendlichen Gesprächen geprägt und – tagsüber – vom Vollzug eines rastlosen, touristischen Programmes mit seinem Zeichenlehrer Johann Tischbein (1751-1829). Nebenbei entsteht zwischen den Beiden das Projekt „Dichtung und Kunst“. Goethe ist angetan: „So ist Tischbeins Gedanke höchst beifallswürdig, dass Dichter und Kunst zusammenarbeiten sollten, um gleich vom Ursprung her eine Einheit zu bilden.“ Das legendäre Bild des Dichters „Goethe in der Campagna“ entsteht. Im Museum stehen wir vor einer Kopie des Gemäldes.

In seinem Tagebuch erwähnt Goethe das Werk mehrmals, so im Eintrag zum 29. Dezember 1786: „Ich soll in Lebensgröße als Reisender, in einen weißen Mantel gehüllt, in freier Luft auf einem umgestürzten Obelisken sitzend, vorgestellt werden, die tief im Hintergrunde liegenden Ruinen der Campagna di Roma überschauend. Es gibt ein schönes Bild, nur zu groß für unsere nordischen Wohnungen. Ich werde wohl wieder dort unterkriechen, das Porträt aber wird keinen Platz finden.“ Das Bild wird zum Symbol des Mythos, der sich um Italien dreht. Allerdings hat Goethe selbst das Gemälde nie vollendet gesehen.

Inzwischen ist die Zeit vorangeschritten. Die Abendsonne steht bereits über der Stadt. Wir laufen zur Piazza Popolo und klettern einige Stufen hinauf zum Park der Villa Borghese, von der man einen wunderbaren Blick über die Stadt hat. Die Atmosphäre ist entspannt, man genießt die Aussicht, hört den Straßenmusiker zu. In der Ferne sehen wir den Vatikan. Der Papst hat dort seinen Ostersegen erteilt.

Am nächsten Morgen schauen wir gebannt auf die Bildschirme in der U-Bahn. Die Stimmung ist ernst, zwei Nonnen, neben uns sitzend, ringen um Fassung. Der Pontifex ist verstorben. Wir mochten ihn, seine Bescheidenheit und viele seiner Aussagen, die die Basis für einen Dialog zwischen den Religionen stiften könnten. „Es wird nie einen wahren Frieden geben, wenn wir nicht in der Lage sind, ein gerechteres Wirtschaftssystem aufzubauen.“ Diese Vision des Oberhauptes der katholischen Kirche wird uns auf jeden Fall in Erinnerung bleiben.

Wir sind auf dem Weg zum protestantischen Friedhof der Stadt, einer der schönsten und zugleich stillsten Orte in Rom. Er ist wie ein geheimer Garten, versteckt hinter Mauern, direkt neben der Cestius-Pyramide. Hier fanden Protestanten und Muslime, sowie einige berühmte Persönlichkeiten, ihre letzte Ruhestätte.

Wir besuchen zunächst das Grab des englischen Poeten John Keats. Er reiste 1820 wegen seiner Tuberkulose nach Italien, in der Hoffnung auf ein milderes Klima. Er starb kurz darauf, im Februar 1821, im Alter von nur 25 Jahren. Damals war Rom eine stark katholisch geprägte Stadt, und der protestantische Friedhof wurde eigens für nicht-katholische Ausländer eingerichtet, darunter viele Briten und Deutsche. Auf seinem Grabstein steht nicht sein Name, sondern nur die berühmte Inschrift: „Here lies One Whose Name was writ in Water“ („Hier liegt einer, dessen Name in Wasser geschrieben war“). Wie alle Poeten regt er bis zuletzt zum Nachdenken an.

Wir laufen weiter über die Anlage, die üppig bewachsen ist, fast wie ein kleiner Park wirkt. Zypressen stehen schlank zwischen den Gräbern. Rosensträucher, Oleander, Lavendel und wilder Wein wachsen zwischen den Grabsteinen. Der Friedhof ist berühmt für seine Katzen. Sie streifen leise zwischen den Gräbern umher, manchmal liegen sie dösend in der Sonne auf einem Marmorsockel. Der Ort wirkt zeitlos, fast wie ein Gemälde: antike Skulpturen, moosbewachsene Grabsteine, verwitterte Inschriften in vielen Sprachen – Englisch, Deutsch, Russisch, Dänisch.

Wir bleiben schließlich am Grab von August Goethe stehen und lesen schweigend die Widmung, die sein Vater ausgewählt hat: „Goethe, der Sohn, / dem Vater / vorangehend, / schied dahin / mit 40 Jahren, / 1830). Der Mann konnte bis zu seinem tragischen Ende – im wahrsten Sinne des Wortes – nie aus dem Schatten des Vaters treten. In Italien wollte er sich endlich selbst finden. Er bereiste das Land zunächst gemeinsam mit Eckermann und starb dann später nach einer Krankheit einsam in Rom.