Goethe in Neapel

Man kann Goethes italienische Reise, aus naheliegenden Gründen, natürlich nicht wirklich nachreisen. Die Welt, die Städte, die Verkehrsmittel und der „Tourismus“ überhaupt, haben sich seit seiner Zeit fundamental verändert. Zu seinen Reiseerfahrungen findet sich ein vielsagender Eintrag, den er auf dem Weg nach Rom vermerkte und zu den Leitmotiven seines Schaffens gehört beziehungsweise überleitet:
  
„Die Postillons fuhren, dass einem Hören und Sehen verging, und so leid es mir tat, diese herrlichen Gegenden mit der entsetzlichen Schnelle und bei Nacht wie im Flug zu durchreisen, so freuet es mich doch innerlich, dass ein günstiger Wind hinter mir her blies und mich meinen Wünschen zu jagte.“
 
Die Zunahme der Geschwindigkeit, die der Dichter nachempfindet, ist ein Vorbote der Moderne. Das Wort veloziferisch ist eine Wortschöpfung Goethes und setzt sich aus den Worten velos (= die Eile) und Luzifer zusammen. In diesem Sinne ist die Eile des Teufels. Dies bedeutet, dass der Mensch im faustischen Zeitalter dazu neigt, sich zu übereilen, sowohl im Denken als auch im Handeln.

Um es kurzzufassen: Neapel ist für den Schriftsteller im wahrsten Sinne überwältigend. Die Stadt hat gegen Ende des 18. Jahrhunderts rund 450000 Einwohner und ist die drittgrößte Stadt Europas. In das gesellschaftliche Leben wird er von seinem berühmten Zeichenlehrer eingeführt, dessen luxuriösen Lebensstil er bewundert: Jakob Hackert (1737-1807). Der Male geniest eine gut bezahlte Künstlerexistenz am Hof Ferdinands IV und wohnt in einem der prächtigsten Paläste der Stadt. Im Verhältnis zeigt sich die Grenze der Lernbereitschaft des Schülers, wie sein Lehrer mit ironischem Unterton von einem Gespräch mit dem Künstler berichtet. Hackert: „Sie haben Anlage, aber Sie können nichts machen. Bleiben Sie achtzehn Monate bei mir, so sollen sie etwas hervorbringen, was Ihnen und anderen Freude macht.“ Goethe schlägt das Angebot dankend aus.
 
In Rom war es die Kunst, in Neapel ist es die Natur und das im öffentlichen Raum als pittoresk empfundene Volksleben, was ihn verzaubert. „Ich finde in diesem Volk die lebhafteste und geistreiche Industrie, nicht um reich zu werden, sondern um sorgenfrei zu leben.“ Der Dichter zerstört mit dieser Formulierung, die in der damaligen Reiseliteratur übliche Beschreibung der angeblich „faulen“ Neapolitaner. Goethes Gegenthese lautet: „(…), dass dies wohl eine nordische Ansicht sein möchte, wo man jeden für einen Müßiggänger hält, der sich nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht“.
 
Und Goethe ist im Vergleich zu seinem Rom-Aufenthalt gesellig, genießt die freiheitliche Atmosphäre und begegnet Menschen aus allen Schichten. Er berichtet: „Gegen die hiesige freie Lage kommt einem die Hauptstadt der Welt im Tibergrunde, wie ein altes, übelplaziertes Kloster vor.“

Wir wandern staunend durch die Stadt, ohne Ziel und ohne festgelegtes Programm. Es ist die Atmosphäre in der Altstadt, die uns besonders beeindruckt. Man findet hier Gassen, die noch das originäre Leben der Neapolitaner anklingen lassen. Sie sind eng, das Leben pulsiert darin und wachsame Augen beobachten jeden, der in diese Welt eintritt. Allgegenwärtig ist die metaphysische Einbettung des Alltags. So hat jedes Quartier einen oder eine Heilige, die in in einem kleinen Schrein verehrt wird. Diesen Status hat auch der argentinische Fußballer Maradona erreicht: sein Bild taucht an vielen Wänden auf. Der Fußball ist in Neapel mit quasi religiöser Begeisterung präsent. Zu Verkauf stehen Wandteppiche, die dem Balljongleur gewidmet sind, mit der Aufschrift: „Religion Monoteistico“ versehen. Und man blickt, in vertikaler Sicht, aus den dunklen Gassen hinauf in den tiefblauen Himmel.

Einen tiefen Glauben braucht es, auf den zahlreichen, mit der Wäsche des Tages behangenen Balkone zu sitzen. Sie sind mit schmiedeeisernen, in die Jahre gekommenen, Konstruktionen abgesichert. Rainer Maria Rilke widmete bei seinem Aufenthalt dem Phänomen ein Gedicht:

Von der Enge, oben, des Balkones
angeordnet wie von einem Maler
und gebunden wie zu einem Strauß
alternder Gesichter und ovaler,
klar im Abend, sehn sie idealer,
rührender und wie für immer aus.

Wir beschließen unseren Rundgang auf einer Anhöhe und blicken auf den Golf von Neapel. Der Anblick ist schwer zu beschreiben. „Wenn ich Worte schreiben will,“ schrieb Goethe, „so stehen mir immer Bilder vor Augen des fruchtbaren Landes, des freien Meeres, der duftigen Inseln und mir fehlen die Organe, das alles darzustellen.“
 
Wir sind am Rande der Ausgrabungen von Pompeji untergekommen und können die untergegangene Stadt am Abend besuchen. Noch immer drängeln sich zahlreiche Touristen durch die riesige Anlage, suchen, mit Stadtplänen ausgestattet, nach Orientierung. Sie laufen auf den uralten, beeindruckenden römischen Straßen. Es gibt in den Villas mumifizierte Stadtbewohner zu sehen, die – vor über 2000 Jahren – von dem gewaltigen Ausbruch des Vesuvs überrascht worden sind. Über der Szenerie thront der Berg, in unbeteiligter Schönheit. Noch heute sorgt sich die Region vor einem neuen Ausbruch des Massivs. Was fasziniert so eine große Zahl von Menschen, die, wie von einem Magnet angezogen werden, an diesem Ort?

Vielleicht gibt die Psychologie eine Antwort. 1902 besuchte Sigmund Freud Pompeji erstmals. Obwohl er die Stadt nur einmal besichtigte, blieb sie für ihn von großer Bedeutung. Er sah in Pompeji ein Symbol für das menschliche Gedächtnis: Die Verschüttung der Stadt durch den Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. und ihre spätere Ausgrabung erinnerten ihn an die psychische Verdrängung und das Wiederaufleben verdrängter Erinnerungen. „Wie der Archäologe die verschütteten Städte Schicht für Schicht freilegt, so enthüllt die Psychoanalyse die Schichten des seelischen Lebens.“ Ist dies die Erklärung? Vielleicht ahnt der Sterbliche gerade hier, bewusst oder nicht, dass er, bei allem Fortschritt, der Natur unterlegen ist.

Auf einer Bank lesen wir die Episode, die – aus unserer Sicht – zu den wunderbarsten Beschreibungen der Italienischen Reise gehört. Beschrieben wird die Besteigung des Vesuvs Goethes mit dem Maler Johann Tischbein. Sein Freund begleitet ihn „ungern, doch mit treuer Geselligkeit.“ Das Unternehmen ist lebensgefährlich, der Berg brodelt, Steine fliegend durch die Luft. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen den beiden. Bei aller Liebe ist der Künstler nicht bereit, für die naturwissenschaftliche Erkenntnis zu sterben. Er bleibt in sicherer Entfernung zurück. Goethe dagegen wagt den Aufstieg zum Krater: „Wie aber durchaus eine gegenwärtige Gefahr etwas Reizendes hat und den Widerspruchsgeist im Menschen fordert, ihr zu trotzen, so bedachte ich, daß es möglich sein müsse, in der Zwischenzeit von zwei Eruptionen den Kegelberg hinauf an den Schlund zu gelangen und auch in diesem Zeitraum den Rückweg zu gewinnen.“
  
Es stellt sich (nicht nur für den Autor) die Frage: ist es nicht eher die Natur, also nicht die Kunst, die den Menschen prägt und das Schicksal des Menschen entscheidend bestimmt? Erstaunlich ist Goethes Einschätzung der besonderen Lage der „Neapolitaner“, die er nach einer Rückkehr nach Neapel zitiert:
 
„Der herrlichste Sonnenuntergang, ein himmlischer Abend erquickten mich auf meiner Rückkehr; doch konnte empfinden, wie sinne verwirrend ein ungeheurer Gegensatz sich erweise. Das Schreckliche zum Schönen, das Schöne zum Schrecklichen, beides hebt einander auf und bringt eine gleichgültige Empfindung heraus. Gewiss wäre der Neapolitaner ein anderer Mensch, wenn er sich nicht zwischen Gott und Satan eingeklemmt fühlte.“
  
Wie geht der Schriftsteller mit dieser Polarität um? Man könnte sagen, mit aktiver Bejahung, wie sie in seinem West-Östlichen Diwan zum Ausdruck kommt.
 
„Bevor Du dies nicht hast, dieses stirb und werde, bist Du nur ein trüber Gast, auf der dunklen Erde.“