Sonnenleute

Der Zauberberg von Thomas Mann spielt in den Schweizer Alpen, fern von den Naturschönheiten Siziliens. Auf den ersten Blick ist das Buch also keine passende Reiselektüre für uns. Diese Einschätzung ändert sich, wenn man an einen der Sinnsprüche aus dem Roman denkt: „Der Mensch ist Herr der Gegensätze, sie sind durch ihn, und also ist er vornehmer als sie.“ Berge und Meer, Sommer und Winter sind Ur-Phänomene. Es sind Gegensätze, die uns zeitlebens bestimmen und die wir in dem Gedanken der Einheit allen Seins überwinden. Thomas Mann sieht das Leben im Schnee und die Erfahrung am Meeresstrand in mehrfacher Hinsicht verwandt, denn „die Urmonotomie des Naturbildes ist beiden Sphären gemeinsam“.

Wir unternehmen an einem schönen Frühlingstag einen Spaziergang an das Capo Milazzo im Norden Siziliens. Der Weg führt an blühenden Blumen vorbei an einen Aussichtspunkt, von dem man auf den Küstenabschnitt herabblickt. Die Szenerie erinnert uns tatsächlich an eine Beschreibung in Thomas Manns Roman: „Da lag das Meer – ein Meer, das Südmeer war das, tief-tiefblau, von Silberlichtern blitzend, eine wunderschöne Bucht, dunstig offen an einer Seite, zur Hälfte von immer matter blauen Bergzügen weit umfasst.“

Das Zitat ist aus einem Traum, den Hans Castorp, der Protagonist des Romans, während einer Schneewanderung erlebt. Erstaunlicherweise war er, vor seinem Aufenthalt in dem Sanatorium, bisher nur im Norden Europas unterwegs. „Er hatte auf Ferienreisen vom Süden kaum genippt, kannte die raue blasse See und hing dann mit kindlichen, schwerfälligen Gefühlen, hatte aber das Mittelmeer, Neapel, Sizilien oder Griechenland, niemals erreicht. Nachdem er auf seiner Wanderung im Schneesturm nur in „das Nichts, das weiße, wirbelnde nichts“ geblickt hatte, erinnert er sich jetzt – träumend – an eine südliche Atmosphäre. „Ja, das war eigentümlich, ein Wiedererkennen, das er feierte.“ Er hatte das Bild, oder sagen wir die Sehnsucht danach, in seinem Herzen.

Wir steigen jetzt die Stufen hinab zur Küste und sehen in einiger Ferne ein natürliches Bassin, dass durch die Wellen des Meeres immer wieder mit Wasser versorgt wird. Eine Gruppe junger Menschen badet darin. Auf den umliegenden Klippen sonnen sich einige Gruppen von Wanderer. Wieder kommt uns eine andere Szene aus dem Roman in den Sinn. Castorp erlebt in seiner Traumsequenz eine ähnliche Situation. Er sieht ein sonnendurchflutetes, friedliches mediterranes Tal, in dem Menschen in Schönheit, Harmonie und Liebe zusammenleben. „Menschen, Sonnen- und Meereskinder, regten sich und ruhten überall, verständig-heitere, schöne junge Menschheit, so angenehm zu schauen.“ Er bewundert insbesondere die höfliche Rücksicht der Gruppe, ihre Würde und Strenge, „doch ganz ins Heitere gelöst“ und eine verständige Frömmigkeit, die ihr Tun und Lassen bestimmt.

Thomas Mann schafft so eine Vision, die, an die, unter dem Eindruck des schrecklichen Weltkrieges entstandenen „Lebensreformmodelle“ der 1920er Jahren, erinnern. Im Zauberberg zeigt Mann Interesse an alternativen Praktiken, von der Psychoanalyse, über alternative Heilmethoden bis zum Vegetarismus. Sein Urteil schwankt diesbezüglich zwischen Verständnis und Ablehnung. Er versteht, dass die Menschen von den Ideologien flüchten wollen, befürchtet aber, dass aus einem verbreiteten Irrationalismus eines Tages politische Gefahren entstehen können. Fakt ist, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Versuche in Europa entstehen, alternative Gemeinschaften und Lebenspraxen zu entwickeln.

Die Frage des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft, Gemeinschaft und Individuum prägen im Zauberberg auch einige, noch immer lesenswerte Diskussionen zwischen zwei Gelehrten, die als Mentoren Hans Castros auftreten. Die Gespräche zwischen den beiden gegensätzlichen Charakteren sind – wie wir sehen werden – von beinahe unheimlicher Aktualität.

Hier eine verkürzte Auswahl zentraler Gedanken:

Settimbrini behauptet: „Zwei Prinzipien lägen im ewigen Kampf um die Welt, ‚die Macht und das Recht, die Tyrannei und die Freiheit, der Aberglaube und das Wissen, das Beharren und der Fortschritt, Asien und Europa.‘ Seine Hoffnung für die Zukunft liegen auf der Rationalität, der Demokratie und den Wissenschaften. Naphtha dagegen kritisiert den immanenten Kapitalismus des weltlichen Staates, dessen bürgerliche Ideologie eine Transzendenz anstrebt, die langfristig auf einen Weltstaat hinausläuft. „Das Geld wird Kaiser sein, – das ist eine Prophezeiung aus dem 11. Jahrhundert“ erklärt Naphtha skeptisch. Er glaubt an die Notwendigkeit des Terrors, um die „ungläubige“ Menschheit zu retten. Paradoxerweise sieht Naphtha seine Forderungen nicht in einem christlichen Gottesstaat, sondern in der Ideologie des Kommunismus umgesetzt.

Während wir uns auf einer Bank hingesetzt haben, sinnen wir über die Zukunft von alternativen Gemeinschaften nach und ihre künftige Rolle im modernen Staat. In unserem Camperleben treffen wir immer wieder auf Plätze, die ökologische und kulturelle Möglichkeiten anbieten und eine besondere Konstellation ermöglichen.

„Sonnenleute“, die mit lebensbejahender Kraft agieren, sich gegenseitig respektieren, ohne der Idee einer Uniformierung zu folgen und ohne den Tod aus ihrem Leben zu verdrängen. Ist das eine Utopie? Vielleicht. Dann ist es die Aufgabe der Schriftsteller, unsere imaginären Kräfte neu zu stimulieren.